Wer in diesen Tagen die Weimarer Kunsthalle „Harry Graf Kessler“ betritt, denkt wohl unwillkürlich an Ölgemälde von van Gogh. Aber natürlich können es nicht die heute millionenschweren Werke des weltbekannten Niederländers sein – hier, in der von außen recht unscheinbaren Halle am Weimarer Goetheplatz. Es sind Acryl-Malereien des Künstlers Heinz Schäfer († 2022), die einem – erstmals an diesem Ort – entgegenleuchten. Und bei genauerem Hinsehen sieht man sofort die Unterschiede. Der Farbauftrag ist nicht zentimeterdick wenn auch üppig, es fehlen die irren Drehungen und Windungen wie bei van Goghs Zypressenbildern – etwa der Sternennacht. Einige Bilder erinnern an Max Liebermann, etwa der „Südhang im Kirschbachtal“, „Blumen am Haus“ oder an den Dänen ➥ Claus Johansen, wie die „Wolken“ 5 . Der Maler selbst sieht sich in der Nähe von Monet und Vorbild Cézanne und fühlt sich der Malerschule von Modersohn-Becker (Worpswede) verbunden. Aber genug des Vergleichs und genauer hingeschaut!
Sujets findet Schäfer in den Landschaften um Weimar, den Dörfern und Kleinstädten Thüringens, aber auch bei Reisen z.B. nach Ostfriesland, Hiddensee, nach Kroatien, in die Provence oder die Toskana. Er malt auch Porträts und Stillleben, letztere oft mit einem Schuss Witz gewählt wie die „Spiegeleier“ 1 oder die Birnen – links vorne ein Bunzlau-Salzstreuer respektive ein Eierbecher. „Nach dem Essen“ zeigt im Grunde nur zusammengestelltes, benutztes Geschirr und Besteck.
Die „Kirschen“ 2 wirken nicht sorgsam drapiert und arrangiert wie etwa auf Gemälden des 17. Jahrhunderts (➥ Ein Blumenjahr in der Mingvase), sondern einfach hingeschüttet, frei und schön und doch mit einer gewissen Ordnung. Der farblich stark kontrastierende blaugrüne Steingut-Teller hält zum rechten Bildrand nahezu den gleichen Abstand wie zum unteren Rand, die Kirschen liegen nicht in seiner Mitte, zugleich aber genau zentriert im Blick des Betrachters. Der Künstler bevorzugt den klassischen Bildaufbau mit (versetzter) Diagonale, der Betrachter wird links unten eingefangen und in einer Kreisbewegung ins Bildzentrum geführt, ohne irgendwo „verloren zu gehen“ oder „aus dem Bild zu fallen“.
Sogar einen Blick „backstage“ nutzt der Maler als Motiv wie im „Ateliersstillleben“ 3 , wo wir Farbtuben, Pinsel im Glas und Becher, Lösungsmittel, Lappen bewundern und fast riechen können, dazu ein grüner, frisch duftender Apfel. Das findet man in der Kunst selten: Ein Selbstporträt ohne Selbst, das Werk bzw. das Werken steht im Mittelpunkt.
Herausragend sind die Landschaftsbilder, die zum großen Teil direkt draußen in der Natur entstehen. Besonderen Wert scheint der „Freilichtmaler“ auch hier auf die Komposition zu legen. Der Betrachter wird sanft angesprochen und geleitet, es ist mehr ein Vorschlag an den Betrachter und keine gewaltsame, plakative Gefangennahme wie oft bei Nolde. Wir finden Schwung, Rhythmus und Dramatik – vielleicht Einflüsse aus der Sänger-Ausbildung des Malers [1]. Die Horizontlinie gibt Dur oder Moll-Tonart vor, die Farbkomposition formt eine Melodie und das Werk ufert nicht aus oder zerfasert unbegrenzt, sondern bildet eine schöne Einheit mit Anfang, Hauptmotiv und Ende. Wie in der Musik zählt die gute Vorbereitung: „Er sucht sich ein Motiv, das ihn interessiert und nähert sich ihm langsam, kreist es gewissermaßen ein, ‚beschnuppert‘ es von allen Seiten, wählt behutsam den Platz aus, an dem er die Staffelei aufbaut“ [2]. Ebenso gründlich ist der impressive Zeitpunkt gewählt, wie etwa beim „Kanal in Ostfriesland“ 4 – der Abendhimmel leuchtet einem hier geradezu blendend entgegen; unwillkürlich hat man den Impuls, die Augen vor dem Sonnenlicht etwas schützend zu schließen.
Der gelernte Schriftsetzer studierte 1979-1983 Gesang und trat bis 1990 mit Opernchören in Weimar und Erfurt auf. Es war dann nicht die „Wende“, die dies beendete, sondern eine Erkrankung. Die Krankheit sah er als „Scheitern“, das „Wiederaufstehen“ gelang ab 1998 als bildender Künstler [3]. Schäfer griff damit die zweite große Leidenschaft seiner Jugendzeit wieder auf, denn als junger Mann hatte er neun Jahre lang Zeichenunterricht an der Volkskunstschule in Jena und bei den Malern Hermes und Lasko genommen [4] und interessierte sich für Grafik und Typografie, bis er sich dann doch zunächst für die Musik entschied.
Vielleicht ist es ebenfalls der Gesangsbiografie zuzuschreiben, dass wir auf Schäfers Landschaftsbildern oft einen Großteil der Dramatik in der „Luft“ finden. Himmel, Wolken, Farben, Bewegung, Gefühl – wie Klänge brauchen Stimmungen nicht unbedingt Gegenständliches als Medium. Mitunter tritt die Landschaft, die „Erde“, in den Hintergrund – wo doch der Himmel in der üblichen Malerei meist nur den Hintergrund, die Bühne, bildet. Ganz im Gegenteil ist auf diesen Bildern der Boden mit dramatisch, expressionistisch, angeschrägter Horizontlinie eher der Kontrabass für das forto possibile, das sich oben abspielt. Beispiele sind „Ostfriesische Wolken“, „Hoher Himmel“, „Wolken“ 5 , „Rosa Wolken“, „Wolken im Gehädrich“ bis hin zur „Gewitterstimmung“. Man könnte sagen, die atmosphärische Dramatik ist auf diesen Bildern größer als die der Erdoberfläche – passend zu Veränderungen, die der aktuelle Klimawandel mit sich bringt, oder zu düsteren Stimmungen infolge der Corona-Krise oder des Ukraine-Krieges, die man hier als vorausempfunden nachspüren kann. Nicht alles ist nur „schön“, manches wirkt auch recht bedrohlich wie beim Ausstellungsmotiv „Rote Wolke“ 6 oder der „Gewitterstimmung“.
Nun wäre es aber völlig daneben, Heinz Schäfer nur als „postmodernen Wolkenmaler“ einzuordnen. Unter den mittlerweile etwa 1.600 Werken des Künstlers finden sich viele fröhliche Frühlings- und Sommerbilder. Auffallend hier: Bei jedem Bild scheint sich der Künstler auf eine eigene Farbpalette festzulegen, wie auf eine Grundmelodie.
Blaugrün ist die Palette beim „Kirschbachtal Südhang“ 7 , Pastelltöne in Rosé, hellblau und hellgrün kennzeichnen den „Ostseestrand“. Gelb-grün-beige beherrscht etwa das „Rapsfeld im Kirschbachtal“ 8 . Diese Impressionen aus dem Kirschbachtal ähneln sich vom Motiv her – wir folgen einem Weg in die Landschaft, dessen Ziel verborgen bleibt – und können farblich doch unterschiedlicher kaum sein. Der Ausdruck ist im ersten Fall schrill und kräftig, fast schon stressig und zugleich süß wie das Leben in der Großstadt. Im zweiten Bild finden wir versöhnlichere (Farb-)Töne, der Weg in die Ferne verspricht Hoffnung, das Rapsfeld bietet die nahrhafte (farbliche) Fülle der Natur dar.
Die Fülle des Spätsommers finden wir mit seiner Dunkelgrün-Ocker-Palette im Motiv „Kornfeld“ (Beitragsbild) oder dem „Blühstreifen im Kirschbachtal II“ 9 . Doch auch Herbst- und – seltener – Winterstimmungen fängt Schäfer ein wie die „Pappeln bei Taubach“, „Landschaft bei Niedergrunstedt“ oder „Bad Berka im Winter“ 10 .
Im Winter zieht es den Maler offensichtlich und verständlich eher in die Kleinstädte und Orte seiner Heimat als in die kalte Landschaft hinaus, wobei wir uns hiermit zugleich einem weiteren Sujet nähern. Orte wie „Lehnstedt“, im „Dorfspaziergang“, wirken verlassen – nicht der Mensch steht auf diesen Bildern im Mittelpunkt, sondern die Ortslandschaft. Nur vereinzelt treffen wir „Ãœbrig gebliebene“ wie im „Dorfspaziergang“ oder beim „Erfurter Dom“, meist einsame oder in sich gekehrte Gestalten, die mit gesenktem Kopf scheinbar ziellos umherstreifen. Auch diesen Bildern fügt der Maler mitunter einen Schuss Ironie hinzu, wir finden bei „Bad Berka im Winter“ 10 vorn rechts ein Verkehrsschild – das ist mehr als schnöder Realismus, sondern kennzeichnet die Stimmung. Eine Straße führt wie auf den Frühlingsbildern mittig irgendwo ins Zentrum, möglicherweise auf die Dorfkirche zu, die für den Glauben steht. Doch die Hoffnung ist durch „Einfahrt verboten“ für die Mehrzahl der Verkehrsteilnehmer versperrt, sie müssen (vergeblich) versuchen, sich dem Glauben zu nähern wie der Landvermesser dem Schloss im gleichnamigen Kafka-Roman.
Schäfer wagt sich auch an Motive, die zum Klischee geworden sind, und haucht ihnen neues Leben ein. Man kann kaum abschätzen, wie oft etwa der Erfurter Dom, die Feiningerkirche oder gar das Goethehaus in Weimar bereits gemalt oder abgelichtet wurden. Das „Goethehaus“ 11 , das uns Schäfer präsentiert, ist etwas Außerordentliches. Die Farbpalette ist überwiegend in Blau-grau und sattem Grün sowie einigem Braun gehalten. Fast demütig steht wie unentschlossen eine kleine Figur mit blauer Jacke und umbra-farbener Hose links unten vor einer Weggabelung zum Gartenhaus des Dichters. Der direkte Weg nimmt den Betrachter mit zum Eingangstor – sofern er nicht vorher schnell noch rechts abbiegt. Das im Grunde bescheidene, graue Domizil ragt hoch, fast abweisend, auf. Hier ist das Ziel der Blickführung ganz klar und lässt keine Zweifel zu. Eine eigentlich statische Szenerie – Haus im Park – gewinnt durch die dramatisch nach links geneigten Parkbäume, als würden diese vom Wind gebogen und zerzaust, an Spannung. Der kleine Mensch muss dem Sturm trotzen, der durch die blauen Zweige entgegenpfeift – nichts mit Ruhe über allen Gipfeln. Das braune Gehölz vor dem Haus wirkt wie eine hektische Markierung, wie ein Trichter oder Blumenstrauß, aus dem das symbolträchtige Gebäude emporwächst. Goethe ist monumental und es fällt auch oder gerade heute nicht leicht, sich ihm zu nähern.
Beim Goethehaus geht es um Goethe – Heinz Schäfer käme wohl nicht auf die Idee, ein Porträt des 1832 verstorbenen Dichters zu malen. Dabei gehören zu seinen Sujets durchaus Porträts und auch ein Selbstporträt. Man sieht auf diesen Bildern moderne deutsche Menschen wie etwa den Schauspieler Thomas Thieme 12 . Der Mann auf dem Bild wirkt mit skeptisch hochgezogener rechter Augenbraue leicht hypertonisch und im Anzug mit weißem Hemd und Krawatte wie ein beleibter Unternehmenschef, der lauernd auf die Konkurrenz blickt.
Beschönigen oder glattbügeln ist die Sache von Schäfer nicht und den Maßstab, den er an andere anlegt, verwendet er auch bei sich, wie beim Selbstporträt 13 – hier dominieren Grautöne. Wir sehen einen leicht unsicher wirkenden hageren, blassen Mann mit Bart und Brille und strenger Stirnfalte, der unverwandt und ernst, durchdringend, unbestechlich aus dem Bild schaut.
Manchmal ist das Wiederaufstehen erfolgreicher als das, was vor dem Scheitern war. Wir können den Gesang des Malers heute nicht mehr beurteilen, die Töne sind längst verklungen. Die Farbtöne dagegen, die Gemälde Heinz Schäfers, werden bleiben.
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[1] Thüringer Allgemeine: Vom Scheitern und Wiederaufstehen. ▲
[2] Thüringer Allgemeine: Heinz Schäfer präsentiert gemalte Augenblicke in Niedergrunstedt. ▲
[3] Titel der Ausstellung in der Weimarer Kunsthalle: „Vom Scheitern und Wiederaufstehen“ (2022). ▲
[4] Begleitinformationen zur Ausstellung in der Weimarer Kunsthalle 2022. ▲
Beitragsbild: Kornfeld (2016), mit freundl. Genehmigung durch Heinz Schäfer, Foto: Mirke 2022, Ausstellung Weimarer Kunsthalle.
Verwendung des PICR-Logos mit freundlicher Genehmigung durch PICR, 19.05.2024.
13158.1 Spiegeleier, mit freundl. Genehmigung durch Heinz Schäfer, via Facebook. ▲
13158.2 Kirschen auf blauem Teller, mit freundl. Genehmigung durch Heinz Schäfer, via Facebook. ▲
13158.3 Ateliersstillleben, mit freundl. Genehmigung durch Heinz Schäfer, via Facebook. ▲
13158.4 Kanal Ostfriesland, mit freundl. Genehmigung durch Heinz Schäfer, via Facebook. ▲
13158.5 Wolken, mit freundl. Genehmigung durch Heinz Schäfer, via Facebook. ▲
13158.6 Rote Wolke, mit freundl. Genehmigung durch Heinz Schäfer, via Facebook. ▲
13158.7 Kirschbachtal Südhang, mit freundl. Genehmigung durch Heinz Schäfer, via Facebook. ▲
13158.8 Rapsfeld im Kirschbachtal, mit freundl. Genehmigung durch Heinz Schäfer, Foto: Mirke 2022, Ausstellung Weimarer Kunsthalle. ▲
13158.9 Blühstreifen im Kirschbachtal II, mit freundl. Genehmigung durch Heinz Schäfer, Foto: Mirke 2022, Ausstellung Weimarer Kunsthalle. ▲
13158.10 Bad Berka im Winter, mit freundl. Genehmigung durch Heinz Schäfer, via Facebook. ▲
13158.11 Goethehaus, mit freundl. Genehmigung durch Heinz Schäfer, via Facebook. ▲
13158.12 Porträt Thomas Thieme, mit freundl. Genehmigung durch Heinz Schäfer, via Facebook. ▲
13158.13 Selbstporträt, mit freundl. Genehmigung durch Heinz Schäfer, via Facebook. ▲