Freytag-Kult in Siebleben: Pathos ist Gift

In Siebleben (heute Ortsteil von Gotha) lebte in den Sommern ab 1851 bis zu seinem Tod 1895 der deutsche Schriftsteller und Nationalliberale Gustav Freytag, geb. 13. Juli 1816 in Oberschlesien. An der Weimarer Straße 145 (Bundesstraße 7) ist sein ehemaliges „Häusel“ gerade renoviert worden, es steht zum Verkauf (Beitragsbild), und der örtliche Heimatverein hat im Gartenhaus nebenan zwei Zimmer liebevoll mit Erinnerungsstücken hergerichtet, die „Gustav-Freytag-Gedenkstätte“. Ein Stück weiter an der B7, auf dem Kirchfriedhof der Gemeinde St. Helena findet man sein autolärmumspültes Grab.

Der weitgehend vergessene Freytag ist hier Kult: Es gibt einen Gustav-Freytag-Wanderweg an den „Drei Gleichen“, ein Gustav-Freytag-Gymnasium in Siebleben, das zum Abitur eine Gustav-Freytag-Medaille verleiht, eine Gustav-Freytag-Straße, eine Gustav-Freytag-Bushaltestelle, eine Gustav-Freytag-Galerie in der Gothaer Stadtbibiothek, in Gotha eine Gustav-Freytag-Apotheke, eine Gustav-Freytag-Linde, eine Gustav-Freytag-Sitzbank, einen Gustav-Freytag-Stein am Rennsteig, einen Gustav-Freytag-Seniorenclub. Und beim jährlichen Gothardusfest verkörpern Mitglieder des Siebleber Heimatvereins regelmäßig den Dichter und seine dritte Frau.


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Der Dichter und seine dritte Ehefrau Anna Strakosch (39), die er im Alter von 75 heiratete (links). Die Statue steht hinter dem „Häusel“ im „Gustav-Freytag-Park“, ein Stück ungepflegte Wildnis. Das Gartenhaus wurde gerade renoviert (rechts).

Ich habe mich einmal vor langer Zeit durch den ersten von sechs Bänden der „Ahnen“ gequält, die in Siebleben entstanden sein sollen – „Ingo und Ingraban“: „Ingo sah finster auf den Sprecher, eine hohe Kriegergestalt, breitbrustig, mit einer langen Narbe auf der Wange; dem Fremden begegnete mit gleichem Trotz der Mann des Fürsten, an den Augen des einen entzündete sich der Zorn des anderen, bis die Blicke beider Gegner wie Flammen gegeneinander sprühten.“ Von öligem Pathos getränkte Heldengeschichten von der Germanenzeit bis in Freytags Gegenwart. Germanendichtung war Freytag schon in seiner Dissertation 1838 ein Anliegen – obwohl es ein sehr dünn besetztes Thema ist. Die Germanen haben es tatsächlich außer zu ein paar Runenschnitzereien zu keiner weltbewegenden Literatur gebracht (anders als die Römer). Freytag war einer der ersten, der die Germanen rückwirkend als „Deutsche“ okkupierte, sie entsprechend dem seit dem Vormärz gewachsenen Verlangen nach nationaler Identität mit Bedeutsamkeit auflud und somit im Grunde die Wurzeln für späteren Arier-Fanatismus und Rassenwahn legte. Wenn man heute bei Google eingibt: „Soll und Haben Originalausgabe“, bekommt man Hitlers „Mein Kampf“ angeboten (Stand: September 2016).

Freytag war im 19. Jahrhundert (und auch noch bis zur Zeit der Nationalsozialisten 1933 – 1945) der meistgelesene deutsche Schriftsteller und hatte im 1871 gegründeten deutschen Reich einen erheblichen Einfluss. Schließlich gab’s damals weder Radio noch Film und Fernsehen, ganz zu schweigen von Youtube, Twitter, Facebook & Co – man las Briefe, Zeitung und Romane. Gerade erst verblüfften die Anfänge der Fotographie (in den 1830er Jahren entstanden die ersten Daguerreo­typien) und die Dampf-Eisenbahn begann, das wichtigste Verkehrsmittel neben der Kutsche zu werden.


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Alte Buchdeckel von „Die Ahnen“ und „Soll und Haben“ (links und rechts). Grabstätte an der Kirche St. Helena (Mitte).

Freytag transportiert in seinen Romanen wie „Soll und Haben“ Klischees vom „hinterhältigen Juden“ oder „faulen, gewalttätigen Polen“. Dass es auch mal den ehrbaren Juden gibt, der leider ein katastrophales Ende nimmt oder einen einzelnen edlen Polen, der auf verlorenem Posten steht, wertet das Klischee eher auf, denn wie heißt es so schön: Ausnahmen bestätigen die Regel. Rückblickend festigten sich aus solchen Stereotypen Vorurteile, schließlich wuchsen daraus Ausgrenzung, Antisemitismus, Hass und Gewalt, dann Vernichtung und Völkermord. Freytag hatte den Grundstein für etwas gelegt, das er sich zu diesem Zeitpunkt sicher nicht ausmalen konnte.

Und die Situation heute?

Heute erleben wir, wie viele Menschen ihrer Chancen beraubt werden oder erst gar keine erhalten. Familien leben in 2. und 3. Generation von Hartz IV. 10% der Bevölkerung besitzen in Deutschland 70% und diese Ungleichheit wächst. Selbst wer gut verdient, kann sich kein Haus mehr kaufen, ohne sich bis zum Lebensende zu verschulden. „Chancengleichheit“ war einmal ein Stichwort in der Bildungspolitik, heute ist nur noch jeder 50. Student ein Kind von Nicht-Akademikern. Das Leben wird immer komplexer, viele Menschen können mit der technologischen Entwicklung nicht Schritt halten bzw. sie auch nicht finanzieren.

Über Jahrzehnte wurde versäumt, an einer Weiterentwicklung unserer Demokratie zu arbeiten. Bei diesem Thema herrscht heute Stillstand wie zu Bismarcks Zeiten. Die Menschen haben in ihrem Arbeitsumfeld nichts zu sagen, die betriebliche Mitbestimmung wird faktisch Auslaufmodell, der Inhaber oder die Großaktionäre bestimmen allein wie der mittelalterliche Feudalherr. Wir haben das Ruder aus der Hand gegeben, werden beherrscht von Börsenalgorithmen und der Versicherungswirtschaft. Die Politik verhält sich arrogant, viele Politiker sind machtgeile Egomanen, die sich nur noch dafür interessieren, wie sie in den Medien bis zur nächsten Wahl rüberkommen. Es gibt in gewählten Führungspositionen fast keine Vorbilder mehr, die ernsthaft bereit sind, für die Gesellschaft oder deren Verbesserung Opfer zu bringen. Reflexhaft wird auf Aktuelles reagiert, um in die Schlagzeilen zu kommen: Da machen wir mal schnell (irgend)ein Gesetz oder verschärfen irgendetwas. Geradezu zynisch geht es im Gesundheitssystem zu, wenn man nicht privat versichert oder Selbstzahler ist. Alles ist darauf angelegt, möglichst effizient Kunden zu gewinnen, sie dann zu melken und schließlich bei Problemen effizient zu ignorieren.

Die resultierenden Gefühle sind bei vielen, die nicht mehr mitkommen oder mitwollen, Hilflosigkeit und Angst. Die Reaktion darauf ist Wut. Die Wut entlädt sich als Hass aufs Neue und Fremde, auf Fremde, denen es angeblich besser geht. Der Hass richtet sich nicht gegen die Verantwortlichen, die Superreichen, Betrüger, Ausbeuter oder Steuerhinterzieher, nicht gegen Ungerechtigkeit und Missstände. An den Zuständen will man eigentlich nichts ändern. Es soll sich ja nichts ändern, weil man die Zusammenhänge jetzt schon nicht begreift, es soll wieder werden wie „früher“, obwohl man davon gar kein klares Bild hat.

Neid ist schärfer als der wenig genutzte Verstand: Es wäre doch schön einfach, wenn es nur an „denen“ läge. Früher war es besser (da war man jünger). Man glaubt zu wissen, was man glauben möchte, damit das Gefühl seine Berechtigung erhält. Tatsachen könnten stören. Wir sind nicht gemacht für Unsicherheit und auch nicht für den Zufall. Was nicht zu dem passt, was man glauben will, soll Lüge sein und Fake. „In der Psychologie ist das starke Bedürfnis, subjektiv stimmige Erklärungen für das zu finden, was uns widerfährt, auch unter der Theorie der kognitiven Dissonanz bekannt“, schreibt der Psychiater Achim Haug [1]. Unter diesem Druck der Dissonanz glauben wir lieber an bizzarre Dinge oder nicht existente Zusammenhänge, als Unsicherheit auszuhalten.

Werke und Rezeptionsgeschichte Gustav Freytags können uns zeigen, wo die dichterischen Wurzeln sind. Wie angstunterfütterte Legenden Vorurteile entstehen lassen und festigen können, wie dann anhand der Vorurteile „Schuldige“ ausgemacht werden und wie daraus Unmenschliches wird, Verbrechen und Tod. Gefühle sind individuell wahr im Sinne von „real“, aber ihre Berechtigung muss skeptisch durch die Vernunft geprüft werden. Pathos ist Gift, denn es wertet Gefühl auf, ohne seinen Ursprung zu hinterfragen. Der Verstand muss Hüter unserer Werte sein: Menschenwürde, Respekt, Toleranz, Mitleid, Gerechtigkeit und Verantwortung. Handlungen dürfen sich niemals nur von Gefühl oder Pathos leiten lassen, weder von Patriotismus allein noch gar durch den „Blutstrom“ wie es im Dritten Reich hieß. „Unser Herz muss die Welt der Vernunft kennen, und die Vernunft muss sich von einem wissenden Herzen leiten lassen“ [2]. Dies sollte eine Lehre aus Gustav Freytags Werk und aus der deutschen Geschichte sein.

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Fußnoten

[1] Achim Haug: Reisen in die Welt des Wahns, ISBN: 978 3 406 72743 6, S. 27. 

[2] Zitat von Bruno Bettelheim, Informationstafel in der Ausstellung „Buchenwald: Ausgrenzung und Gewalt 1937 bis 1945“ im Gebäude der ehemaligen Effekten- und Kleiderkammer des KZ Buchenwald, Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar. 

Beitragsbild: Mirke, 2016.

Verwendung des PICR-Logos mit freundlicher Genehmigung durch PICR, 19.05.2024.

1408.1   Mirke, 2016.  

1408.2   Mirke (für 2 Fotos), 2016.  

1408.3   Links: Richard Huber, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons. Mitte: Mirke, 2016. Rechts: Mirke, 12.08.2021, Cover: gemeinfrei.  

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