Hundertwassers Haus in Wien: 
Aus Legofarben wurde Dunkelbunt

Das berühmte Hundertwasserhaus in Wien (Ecke Kegelgasse 34-38 und Löwengasse 41-43, gebaut 1983-85) ist in die Jahre gekommen. Aus Fassadenweiß wurde schmutziges, schlieriges Grau, der Bewuchs verdeckt große Teile des Gebäudes, hier und da blättert der Putz, mussten Ziegelfugen wieder geschlossen und Dehnungsfugen mit Silikon ausgebessert werden. Aus leuchtend bunt wurde dunkelbunt, wie der letzte Teil des selbstgewählten Künstlernamens. Nachträglich montierte „Beleuchtungselemente“ verraten die bunte Kunst-Architektur an die Funktionalität. Millionen Touristen aus aller Welt haben Fliesen und Steine betreten und berührt, sie wirken hier und da glatt poliert und abgenutzt.

Der international bekannte, 2000 verstorbene Künstler Friedensreich Hundertwasser alias Friedrich Stowasser (*15. Dezember 1928) hat eine Stiftung hinterlassen, welche die Deutungshoheit für sein Leben und Werk beansprucht. Es gibt weltweit Anhänger und Bewunderer. Er gilt als Pionier des ökolo­gischen Bauens, sein Engage­ment für einen allum­fassenden Natur- und Umwelt­schutz machte ihn lange vor den Grünen populär [1]. Aber es gibt keine Architekturschule oder gar Akademie, die sein typisches Konzept weiterträgt. „Nachahmer“ lehnte Hundertwasser ab. Genauso hält es die Stiftung heute, auch aus urheberrechtlichen Gründen – die Verwertungsrechte liegen ausschließlich bei der Stiftung bzw. bei Joram Harel [2].

Hundertwasser-Gebäude wie das in der Wiener Löwengasse verfügen über typische Merkmale: Da sind zum einen die wiederkehrenden Lego-Farben, die farbigen Nebelwolken um die Fenster, schwarze geschwungene Linien. Zum anderen die bauchigen Keramik-Säulen, die orientalisch wirkenden goldenen Kugeln, Zwiebeltürme und Minarette, einige geometrische Formen wie farbige Spitzkegel (Abb. 5), Trapeze, Dreiecke, Mosaike. Dann das Verwenden gebrauchter Ziegel, die wellenförmig vermauert wurden. Der Künstler: „Wenn einer allein träumt, ist es nur ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, ist das der Anfang einer neuen Wirklichkeit“ [3]. Die architektonische Wirklichkeit ist aber auch 25 Jahre nach Hundertwassers Tod von geradlinigen, geometrischen Beton- und Glas/Stahlbauten geprägt.

Hundertwasser war und ist ohne Zweifel einer der beliebtesten Künstler des 20. Jahrhunderts. Seine Architektur zieht weltweit Menschen in ihren Bann, das Hundert­wasser-Haus in Wien allein hat jährlich bis zu 300.000 touristische Besucher. Auch wenn er offen­sichtlich keine eigene Stil­richtung begründet hat, lässt er sich dennoch einordnen. Der Künstler selbst sprach von Trans­automatismus. Er wollte die abstrakte Malerei der Nach­kriegs­zeit über­winden, die er 1950 in Paris näher kennen­gelernt hatte. Ihm ging es weniger darum, die eigenen Empfindungen und das Unbe­wusste auf die Lei­nwand zu übertragen. Nun solle es (wieder) darum gehen, was der Betrachter beim Anblick der Kunst empfindet. Die Intention des Künstler ist demnach genau das, was beim Publikum ankommt [4].

Seit seinem Tod im Februar 2000 an Bord des Kreuz­fahrt­schiffs Queen Elizabeth 2 hat sich die gän­gige Archi­tektur­meinung nicht wesent­lich ver­Ã¤ndert: Gerade Linien, recht­eckige Bau­elemente, die Hundert­wasser so verach­tete, Glas & Stahl in einer Art Bau­haus 3.0 sind die Regel. Zwar lässt die moderne Architektur Wölbungen [5] und Drehungen [6] zu, auch Schachtelungen [7] und ungewöhnliche Kombinationen [8] (➥ Riesige Pilze mitten in Sevilla) – üblich sind aber immer nüchterne anonyme Großbauten, in denen der Mensch nur abstraktes, ameisenhaftes Beiwerk ist und nichts an dem ändern darf, was er nutzt und bewohnt. Das Individuelle, Bunte und Nicht-regel­konforme wird heute wie damals diskreditiert, besetzt allenfalls gewisse Architektur-Nischen.

Schon zu seinen Lebzeiten wurde Hundertwasser als „Kitschist“, „Fassaden­be­hübscher“ oder „Kunst­kasper“ kritisiert und beleidigt, seine Archi­tektur als „Alp­traum mit Zwiebel­türmen, schiefen Säulen und gewellten Wänden“ – als eine Epidemie, Schlumpf­land oder Neu­schwan­stein mit Zwiebel­türmchen. Einige Kollegen sprachen von „Beulen­pest“ oder „Geschwür-Architecture“. Der Architekt Rob Krier aus Luxemburg beschei­nigte den Hundertwasser-Bauten lediglich „Wald- und Wiesen-, wenn nicht Schreber­garten­qualität“ – auch wenn sie noch so heimelig und nett anzusehen seien [9]. Der Künstler selbst sah maßvollen Kitsch als etwas Positives, das zum Leben gehöre. „Die Schrebergartenhäuser der Arbeiter“ sah er neben „gewissen Gebilden des Jugendstils“ oder z.B. den berühmten Gebäuden von Antoní Gaudi (Sagrada Família) als Beispiel für „gesunde Architekturen der Jetzt­zeit“ [10]. Ganz im Sinne des Transautomatismus registrierte er bei Besuchern seiner Bauten ein Lächeln, Zufriedenheit, gelöste Stimmung. Also könne seine Kunst doch nichts Schlechtes sein.

Als viel schlimmer empfand Hundertwasser die „ästhetische Konterrevolution von Adolf Loos und vom Bauhaus": die Leere, die Sauberkeit, die Kühle und die Ehrlichkeit hätten ins Nichts geführt, ins Aseptische (➥ Bauhaus im KZ). Hundertwasser: „Moderne Architekten verwechseln oft Ehrlichkeit mit Armut und Ãœppigkeit mit Lüge“ [11]. „So eine sterile Leere ist viel gefährlicher als das Ãœberladene“, urteilte Hundert­wasser [12]. In solcher angeblich für den Menschen geplanten Architektur gehe dessen Seele zugrunde. Der Städter sei zerrissen durch Aggressionen, die er nicht verdauen könne. Der Mensch werde psychisch krank und wisse nicht warum [13]. Gründe fand er in der Einquartierung der Menschen in sterilen Quartieren, an denen die Mieter wie eingepferchte Tiere oder Gefängnisinsassen nichts mehr ändern dürften [14]. Eher altersmilde und kompromissbereit stand Hundertwasser später in den 90er Jahren zur äusserlichen „Behübschung“ im Interesse der Nachhaltigkeit: Warum alles wegreißen, wenn man mit einigen kleinen Veränderungen gut auskommt?

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Abb. 4: Gemälde an der Wand des Hundertwasser-Souvenirshops in Kawakawa, Neuseeland (➥ Kunstvoll pinkeln).

Hundertwasser repräsentierte einen Zeitgeist, der Lebendigkeit gegen toten Beton von Brût-Bauten (beispielhaft Abb. 3), Atommeilern und Kühltürmen setzen wollte, Buntheit an die Stelle spießiger, toter, grauer Einfarbigkeit. Langweilige Gewohnheitsnormen sollten die Menschen nicht mehr zu Ameisen machen, unkreative Vorschriften sollten gebrochen werden statt der Menschen. Nur im Einklang mit der Natur könne der Mensch glücklich werden [15].

Er glaube an Farben, sagte er einmal [16]. Dabei ist die Zahl der Farben, die Hundertwasser tatsächlich einsetzt, gering. Wir finden die Grundfarben Rot, Gelb und Blau wie im „aseptischen“ Bauhaus oder bei Piet Mondrian, dazu vielleicht etwas Violett, Braun-Beige und Schwarz als Einfassung oder Abgrenzung. Buntheit entstehe durch Sparsamkeit.

Hundertwasser war als Jugendlicher noch vom National­sozia­lismus geprägt und trauma­tisiert worden, hatte diesen mit seiner Mutter knapp überlebt und hasste den Faschis­mus: Kein Mar­schieren in geo­metri­schen Blöcken, kein gleich­geschal­tetes Hurra oder Heil, nie­mals wieder! Mit seiner be­drückenden Jugend­zeit im Wien 1938-1945 setzte er sich in einigen Werken anfangs der 1960er Jahre aus­einander: Blut regnet auf die Häuser (1961), Juden­haus in Öster­reich (1961–62), Blut­garten (1962) oder Krema­torium (1963). Hundert­wasser polemisierte gegen die Dik­tatur der geraden Linie: „Die gerade Linie ist gott­los und un­mora­lisch“. Und: „Die gerade Linie ist dem Menschen, dem Leben, der gesam­ten Schöpfung wesens­fremd“ [17]. „In ihr wohnt weniger Gott und mensch­licher Geist, als viel­mehr die bequem­heits­lüsterne, gehirn­lose Massen­ameise“ [18]. Seine diplo­mierten Archi­tektur­kollegen nannte er ver­Ã¤chtlich „Lineal­menschen“ [19].

In der Nach­kriegs­zeit sind anar­chisti­sche Ten­denzen spürbar. Er wollte schon in den 1950er Jahren ein Fenster­recht, das es jedem – ob Eigen­tümer oder Mieter – er­lauben sollte, die Fassade auf Arm­länge von der Öff­nung frei selbst umzu­gestalten. Seine Kritik der Nach­kriegs­archi­tek­tur nahm teilweise groteske Züge an: Die Zusammen­fassung von „Fenster­rassen“ in Ge­bäuden ver­glich er mit „Rassen­trennung“ und for­derte: „Die Apart­heid der Fenster-Rassen muss aufhören.“ Die An­einander­reihung immer gleicher Fenster in mono­tonen Fassaden „in den neuen Ge­bäuden der Satelliten­städte und in den neuen Ver­waltungs­gebäuden, Banken, Spitälern, Schulen“ verglich er mit dem Raster­system der Kon­zentra­tions­lager [20]. Darin sah er eine Dik­tatur des Gleich­machens, vor der sich der Mensch in „Alko­hol und Drogen­sucht, Putz­wahn, Fernseh­abhängig­keit, uner­klär­liche körper­liche Beschwer­den, Aller­gien, De­pressio­nen bis zum Selbst­mord oder aber Aggres­sion, Vanda­lismus und Ver­brechen“ flüchte. „Ästhetische Leere, uniforme Wüste, mörderische Sterilität und schöpferische Im­po­tenz“  [21]. Nicht etwa die Eigen­tums- und Arbeits­ver­hält­nisse machen danach die Men­schen ohne Milli­onen macht­los und krank, sondern der Puris­mus in der Archi­tektur?

In seinem Ver­schimme­lungs­mani­fest for­derte Hundert­wasser 1958, auf bau­recht­liche Auf­lagen – selbst solche aus Sicher­heits­gründen – ganz zu ver­zichten. Todes­opfer soll­ten zu­gunsten der krea­tiven Ge­staltungs­freiheit in Kauf ge­nommen werden: „Und man muss das Risiko mit in Kauf nehmen, dass so ein tolles Ge­bilde nachher zusammen­fällt, und man soll und darf sich vor Menschen­opfern nicht scheuen“ [22].

Die Wirk­lich­keit holte diese frühen Vor­stellungen des Bauens in „Schreber­garten­manier“ ein: Das Fenster­recht als Jeder­manns­recht gibt es in Hundert­wassers Häusern zwar laut Miet­ver­trag [23] – indi­vi­duelle Ver­Ã¤nde­rungen – wie vom Meister pr­opagiert – sucht man in der Rea­lität aber ver­gebens. Die Stiftung führt dies darauf zurück, „dass sie [die Mieter] es nicht nötig finden, da sie in einer menschen- und naturgerechteren Architektur zu Hause sind“ [23.1]. Dann aber hätte Hundertwasser in seinem Haus genau das verhindert, was er doch programmatisch wollte: schöpferische Kreativität durch jedermann. Die Mieter wären damit sozusagen zu satten Hundertwasser-Ameisen degeneriert, um es in der provokanten Sprache des Künstlers zu formulieren. Vermut­lich wären die Bau­auf­sicht oder die Hundert­wasser-Privat­stiftung auch unzu­frieden, sollten Mieter z.B. ausladende Beulen „ankleben“ oder rund­um Barock­fenster ein­bauen und diese kupfer­farben bemalen. Das Fensterrecht erscheint wirklichkeitsfremd, solange die Eigentumsverhältnisse so sind wie sie sind. Vermut­lich hätte es Hundert­wasser auch nicht sonder­lich goutiert, wenn Aus­stellungs­be­sucher nach eige­nem Ge­schmack an seinen Ge­mälden „weiter­gemalt“ hätten, unter Berufung auf eine Erweiterung des Mitgestaltungsrechts von der Architektur auf die bildende Kunst.

Dies führt zu generellen Fragen: Soll das Haus weiter sichtlich verwittern, erodieren und „verschimmeln“, wie es der Künster für die herkömmliche Architektur wollte [24], sollen wir uns über abblätternden Putz und Moos in den Ecken freuen oder soll es immer wieder einmal in den originalen Zustand zurück-restauriert werden? Passt Denkmalschutz zu Hundertwassers Intentionen? Was soll geschehen, wenn die Tröge der Baummieter und die Terrassen undicht werden und den darunter liegenden Wohnungen Nässeschäden drohen? Darf und soll aus dem Gebäudekomplex eine bewachsene Ruine werden? Soll man den Bewuchs begrenzen oder darf das Haus irgendwann im überbordenden Grün untergehen? Einmal abgesehen davon, dass auf Balkonen oder dem Dach riesig gewordene Bäume bzw. Baummieter abbrechen, umstürzen, Menschen gefährden könnten (Abb. 1) – sollte dies im Sinne der „Naturierung“ akzeptiert werden? Die Stiftung beruhigt: Bauliche Mängel würden durch die Verwaltungsgesellschaft GESIBA stets behoben, auch evtl. Nässeschäden beseitigt und gefährdende Bäume ersetzt [24.1].

Hundertwassers Kunst lässt sich als Replique auf die brutale Gleichmacherei des NS-Regimes, des Faschismus und Stalinismus begreifen. Aber in unserer heutigen, endlos komplex gewordenen – einerseits überbürokratisierten, andererseits chaotischen – Katastrophenwelt wächst eher das Bedürfnis nach Geradlinigkeit, nach Einfachheit und vorgegebener Struktur, nach Symmetrie und Klarheit, Transparenz und Ordnung [25]. Wenn sich in der digitalen Welt schon alles im Mikrosekundentakt ändern kann, möchte man wenigstens in seinen „vier Wänden“ Geradlinigkeit und eine gewisse Beständigkeit. Dies erklärt vielleicht auch, warum Hundertwassers Projekte nur relativ wenige „Architektur-Follower“ fanden und finden. Dies erklärt vielleicht auch, warum die Hunderttausende von Besuchern seine Architektur zwar bewundern, sich aber eher an Filmkulissen, Fiktionen wie das Auenland Tolkiens oder einen Kinderroman von Astrid Lindgren erinnert sehen und sich nicht wirklich vorstellen können, dauerhaft in solch einem Gebäude zu wohnen – wobei diese Aussage von der Stiftung naturgemäß bestritten wird [25.1].

Parallelen sind nicht zufällig – entweder dem Zeitgeist geschuldet oder tatsächlich übernommen [26]. Der fantasievolle Name „Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf“ erinnert an „Friedensreich Hundertwasser Regentag Dunkelbunt“ und Hundertwassers „Regentag“ an das Schiff „Hoppetosse“ von Langstrumpfs Piratenvater Efraim Langstrumpf. Selbst Pippis Villa ist ausgesprochen ornamental und mit Erkern und Türmchen versehen, bunt – wenn auch pastellfarben (Abb. 8). Der Kritiker Gottfried Sello nannte Hundertwassers Kunstrichtung einmal treffend „Kinder- und Jugendstil“ [27].

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Abb. 9: Von Touristen umlagerter Eingang zur Hundertwasser-Village.

Vieles, was Ökologen heute fordern, wollte Hundertwasser schon ab den 1950er Jahren. In seinem Text „Es gibt keine Mißstände der Natur“ (1990) resümierte er: „Der Bach, der Fluß, der Sumpf, die Aulandschaft in ihrer gottgewollten Beschaffenheit müssen uns heilig und unantastbar sein.“ Statt gegen die Natur und ausbeuterisch von der Natur zu leben, solle der Mensch mit sich und mit der äußeren Natur ins Reine kommen, sich spielerisch mit ihr versöhnen [28]. Hundertwasser kämpfte immer wieder in zahlreichen Manifesten, Briefen, Reden und bei öffentlichen Demonstrationen für seine zentralen Ideen: Eine Wiederherstellung natürlicher Kreisläufe, den Schutz des Wassers und eine abfallfreie Gesellschaft [29]. In seinen Gebäuden wurden gerne Bauabfälle recyclet, so auch im Wiener Hundertwasserhaus. Alte Ziegelsteine, Keramikscherben, Pflastersteine stammten teilweise aus Abbruchhäusern bzw. von alten Straßen [30]. Nicht nur Dächer und Terrassen wurden begrünt, jedes seiner Gebäude musste einen Garten haben, um Ruhe und Erholung für seine Bewohnerinnen und Bewohner zu bieten. Hundertwasser gilt als Erfinder der Humustoilette, die heute auf der ganzen Welt nachgebaut wird. An jedem seiner Wohnorte stattete er seine Bleibe mit Solaranlage aus. Er pflanzte eigenhändig tausende von Bäumen.

Diese Grund­gedanken sind heute aktu­eller denn je, auch wenn sie nicht frei von Wider­sprüchen waren und sind. „Roman­tisches Natur­ver­ständ­nis“ hat man Hundert­wasser z.B. be­scheinigt – Natur ist eben mehr als duften­des leben­diges Grün, das die Seele heilt. Hundert­wasser: „Die Natur der Pflanzen­welt ist immer aufbauend. Sie ist unser Lehr­meister, sowohl im schöpfe­rischen, als auch im ökolo­gischen Sinn“ [31]. Einzig der Mensch sei schein­bar selbst­zerstörerisch veran­lagt. Aber Natur sind auch kleine und große Kata­strophen, Krank­heiten, Epi­demien; gefähr­liche, gif­tige und lä­stige Pflan­zen, Tiere, Insekten und Spinnen. Natur ist nicht nur Vorbild und Ha­rmonie, sie ist nicht per se menschen­freund­lich, sie kann aus­ge­sprochen gnadenlos sein (➥ Mensch­heit stand kurz vor dem Aus). Von diesem unan­genehmen Teil der Natur hält sich der Mensch gern fern – er muss es, um zu über­leben. Wie es sich sonst ent­wickeln könnte, führt uns die ameri­kan­ische Fernseh­serie Naked Survival in schier end­losen „Abenteuer­folgen“ vor Augen. Sicher war es kein Zu­fall, dass sich Hundert­wasser im Alter gerade auf der Nord­insel Neusee­lands bei ➥ Kawakawa ein Fleck­chen Erde sicher­te: Hier ist das Klima warm und mild, es gibt keine räube­rischen Tiere oder gif­tigen Schlan­gen, Skor­pione oder Feuer­ameisen (ledig­lich Vulkane könnten aus­brechen).

Dass sich der Künstler 1987 aus­ge­rechnet zur Fassaden-Verschönerung einer Müll­ver­brennungs­anlage hergab, sozusagen zum Etiketten­schwindel, mag ver­wundern. Denn natürliche Kreis­lauf­wirt­schaft ist etwas anderes. Die An­lage in Wien-Spittelau be­lastet die Wiener Luft trotz moder­ner Rauch­gas­reini­gungs­technik mit CO2, Feinst­stäuben und Ab­gasen – ein­mal ganz abge­sehen von den „Ewig­keits­chemikalien“ PFAS, die durch die Ver­brennung zwar aufge­spalten werden, da­durch aber keines­wegs in einem natür­lichen Kreis­lauf verschwinden oder ihre Gefähr­lichkeit ein­büßen [32]. Auch über den Erfolg der „Hundert­wasser-Behüb­schung“ kann man in Spittelau geteil­ter Meinung sein (Abb. 11, ➥ Behübschter Müll).

Die Grundgedanken des ökologischen Bauens sind heute genauso gültig wie vor 40 Jahren. Die menschengerechtere Anpassung unserer Städte ist dringender denn je. Aber obwohl die Klimakatastrophe begonnen hat und wir im Sommer regelmäßig bei 30 bis 40 Grad schwitzen, finden wir wenige Dach-Begrünungen und kaum Solaranlagen – dafür viele kahle, gepflasterte Plätze ohne jeglichen Alibi-Baum oder -Strauch wie den Alten Markt am Schloss in Potsdam oder die Umgebung des neuen Humboldt-Forums in Berlin. Neue Hausfassaden oder Dächer werden vielerorts anthrazit gefärbt, die Innenräume dann im Sommer folgerichtig durch energielastige Klimaanlagen gekühlt – wenn man Glück hat. Statt bunter Fliesen und Möbel schreibt die aktuelle Mode dem Innenarchitekten hässliches Beige-Grau vor (Abb. 12), unterschieden nur in Nuancen.

Heute wird im Zusammenhang mit steigenden CO2-Werten und immer zahlreicheren Ãœberschwemmungen und riesigen Waldbränden als Folge der Klimakatastrophe endlich die Renaturierung von Sümpfen und Flusslandschaften gefordert, doch noch immer gibt es viele Menschen, denen Artensterben und Klima egal sind. Das Katastrophen-Gedächtnis des Menschen ist kurz, wenn er nicht direkt betroffen war. Dazu Hundertwasser: „Wir leben in einer phlegma­tischen Zeit sowohl politisch als auch kulturell und architek­tonisch. In der Politik hat man sich mit Erfolg gegen Faschis­mus und Kommunismus gewehrt. Diese Diktaturen sind zusammen­gebrochen. In der Architektur besteht die Diktatur weiter“ [33]. Hoffen wir, dass die gegen­wärtige Anthrazit/Braun-Diktatur häss­licher Glas-Stahl-Monster kein Vor­bote künftiger poli­tischer Systeme ist.

136 Aufrufe – LDS: 02.12.24


Literatur & Medien

(AT) Angelika Taschen (Redaktion): Für ein natur- und menschengerechteres Bauen. Hundertwasser Architektur. ISBN: 3-8228-9594-0.

(WS) Wieland Schmied: Hundertwasser 1928 – 2000. Persönlichkeit, Leben, Werk. ISBN-10: 3-8289-0817-0.

Fußnoten

[1] kabinett-online.de: Hundertwasser: Künstler und Pionier der Nachhaltigkeit. Er ist mittlerweile ein Fall für Ausstellungen, Retrospektiven und Erinnerungen (kunsthalle-hannover.de: Hundertwasser … Architektur und Projekte in Deutschland – Fotografie, Video, Reproduktion und Dokumentationsmaterial). 

[2] Joram Harel vom Vorstand der Hundertwasserstiftung dazu: Hundertwasser sei immer der Meinung gewesen, jeder Mensch müsse seine eigenen Träume verwirklichen und sich kein fremdes geistiges Eigentum aneignen. – Dies widerspricht natürlich dem Gedanken einer „Hundertwasser-Schule“.
Vgl. auch Hundertwassers verschollenes Millionenerbe, insbesondere das abgebildete Dokument „Ermittlung des Unternehmenswertes“, Punkt 4.1 „Gewinnerwartung“. 

[3] zitate7.de: Friedensreich Hundertwasser — Zitate

[4] wikipedia.org: Transautomatismus

[5] Beispiel: Berliner Hauptbahnhof des Architekten Meinhard von Gerkan (➥ Katastrophe „Deutsche Bahn“ – Verspätung für Verkehrswende). 

[6] Beispiele: Turning Torso in Malmö, des spanischen Architekten Santiago Calatrava; der Cayan Tower in Dubai, Palma Real Estate entwickelte das von Skidmore, Owings and Merrill entworfene Bauwerk. 

[7] Beispiel: Berliner CDU-Parteizentrale (Konrad-Adenauer-Haus). Entworfen hat das Gebäude das Düsseldorfer Architekturbüro Petzinka, Pink und Partner. Bauherr war Klaus Groth. 

[8] Beispiel: Sony-Center am Potsdamer Platz (Berlin), gestaltet durch den Architekten Helmut Jahn. 

[9] Zitiert nach: architekten-scout.de: Friedensreich Hundertwasser: Ein genialer und zugleich umstrittener Architekt

[10] Verschimmelungsmanifest, S. 5. 

[11] Der Wiener Journalist, Architekt und Kinderschänder Adolf Loos war entschiedener Gegner des Jugendstils und sah Ornamente als überflüssig und eine Verschwendung von Arbeitszeit an – wikipedia: Adolf Loos, Strafverfahren gegen Adolf Loos wegen Schändung und Verführung zur Unzucht. 

[12] welt.de: Kommt Ihre Kunst ohne Lüge nicht aus, Herr Hundertwasser? 

[13] (AT), S. 38. 

[14] (AT), S. 48. 

[15] hundertwasser.com: Ökologie

[16] welt.de: Kommt Ihre Kunst ohne Lüge nicht aus, Herr Hundertwasser? 

[17] zitate7.de: Friedensreich Hundertwasser — Zitate

[18] architekten-scout.com: Friedensreich Hundertwasser: Ein genialer und zugleich umstrittener Architekt

[19] Verschimmelungsmanifest, S. 1. 

[20] Fensterrecht

[21] Fensterrecht – zitiert mit nicht gekennzeichneten Weglassungen. Ferner hundertwasser-haus.info: Das Hundertwasserhaus

[22] Verschimmelungsmanifest, S. 1. Weiter heißt es dort lapidar: „Wenn so ein von den Bewohnern selbst­gebautes, tolles Gebilde zusammen­fällt, so kracht es ja mei­stens ohne­hin vorher, so daß man flüchten kann. Der Mieter wird jedoch von da an kriti­scher und schöpfe­rischer den Gehäusen gegen­Ã¼ber­stehen, die er b­ewohnt, und wird mit den eigenen Händen die Wände und Pfeiler verdicken, falls sie ihm zu zer­brech­lich scheinen“. 

[23] (AT), S. 271. 

[23.1] A.C. Fürst in einer E-Mail vom 26. November 2024. 

[24] (AT), S. 44. 

[24.1] A.C. Fürst in einer E-Mail vom 26. November 2024. 

[25] Lars Penke, Professor an der Universität Göttingen, untersuchte, wie kulturelle Prägung und subjektive Eindrücke die Definition von Schönheit beeinflussen. Danach gelten perfekte Symmetrie und bestimmte Proportionen (siehe Goldener Schnitt) universell als attraktiv. Bei Hundertwassers Architektur findet sich meist weder das eine noch das andere. 

[25.1] „Wiener Wohnen hatte immer lange Listen von Bewerbern um eine Wohnung im Hundertwasser Haus. Alle Bewohner von Hundertwasser Bauten sind unendlich stolz, in einem Hundertwasser Haus zu wohnen“ – A.C. Fürst in einer E-Mail vom 26. November 2024. 

[26] (AT), S. 7: „Hundertwassers Architekturträume sind von den Kinderbüchern inspiriert, die er in seiner Jugend gelesen hat, […]“. 

[27] hundertwasser.at: Zu Hundertwassers Malerei – Wieland Schmied: Eigenart und Bedeutung der Malerei Hundertwassers

[28] Es gibt keine Missstände der Natur

[29] kabinett-online.de: Hundertwasser: Künstler und Pionier der Nachhaltigkeit

[30] hundertwasser-haus.info: Der Ziegelbau. „Es wurden drei verschiedene Ziegeltypen verwendet: für die verputzten Mauern außen und innen Hohlziegel und neue Vollziegel; für die sichtbar bleibenden Ziegelmauern der Dachterrassen alte Vollziegel mit dem Kaiserwappen aus Abbruchhäusern. 

[31] (AT), S. 36. 

[32] wikipedia.org: Müllverbrennungsanlage Spittelau

[33] zitate7.de: Friedensreich Hundertwasser — Zitate

Beitragsbild: Mirke 12.10.2024.

23114.1   Mirke, 2024.  

23114.2   Mirke, 2024.  

23114.3   ©Hans G. Oberlack, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons. Bearb. von Mirke, 4.11.2024.  

23114.4   Mirke, 2024.  

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23114.7   Mirke, 2024.  

23114.8   Christian Koehn (Fragwürdig), CC BY-SA 2.0 DE, via Wikimedia Commons, 7.11.2024.  

23114.9   Mirke, 2024.  

23114.10   Mirke, 2024.  

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