Einige wenige sahen in ihm ein verkanntes Genie – andere nur einen „naiven“ Maler, der „keine große Kunst“ geschaffen habe [1]: Der 1877 bei Holbæk geborene dänische Künstler Claus Johansen fand über viele Jahrzehnte selten Anerkennung. Erst in den letzten Jahren werden seine Bilder zu begehrteren Sammlerobjekten und finden auf Auktionen schnell Käufer, momentan werden sie mit bis zu $ 4,098 gehandelt (2017 für „Landskab mit trægruppe“ = „Landschaft mit Baumgruppe“ von 1924) [2]. Dabei ist es ihm in den 20er bis 40er Jahren des 20. Jahrhunderts wie keinem anderen gelungen, mit wenigen Pinselstrichen das Typische der Bornholmer Landschaft einzufangen. Kennzeichnend für seine späteren Werke sind einfache farbige oder gemusterte Flächen, gerade Linien, grob gebürstete Gehölzstreifen, farbige Dreiecke, Romben, Rechtecke für die typischen dänischen Gehöfte.
Die Abstraktion geht nie zu weit, das Gegenständliche geht nicht verloren. Johansens einmalige Interpretation der dänischen Insel-Landschaft verführt den Betrachter zu einer neuen Sichtweise. Nach einem Besuch des sehr empfehlenswerten Bornholmer Kunstmuseums nahe Gudhjem, wo dem Maler für 12 seiner Gemälde ein eigener kleiner Raum gewidmet ist [3], blickt man anders auf Äcker und Wäldchen, auf allein liegende Bauernhöfe im Sonnenlicht oder auf Farbspiele der Äcker und Wiesen, kleiner Wäldchen, des Buschwerks und der Ostsee im Hintergrund. Man entdeckt im Schlichten überall immer neue Motive, auch für die Kamera.
Bornholm ragt wie ein Schild aus der See, den die letzte Eiszeit fast konkav geschliffen hat. So kann man auch 10 Kilometer von der Küste entfernt weit hinaus blicken, man schaut im Norden der Insel immer leicht nach unten, ohne dass man es merkt und der „Horizont steht sehr hoch“ [4], was z.B. Niels Lergaard 1937 in seinem „Sonnenaufgang“ faszinierte und 1941 in seiner „Grünen Landschaft am Meer“. So entstehen Perspektiven, die es anderswo nicht gibt: Gelbe Kornfelder, dunkle Baumgruppen, davon durch klare Linie getrennt die Ostsee, die an sich schon immer wieder neue Farbspiele bereithält, eine Horizontlinie quer durchs Bild, mal scharf kontrastiert und mal sanft mit dem Himmel verschmolzen.
Johansen hat sich einmal beklagt, dass man seine Bilder mit der Feststellung kritisiere, sie enthielten zuviel Grau. In einer Zeit, die noch den Impressionismus verdaute, der im Extrem nur Komplementärfarben kannte, zwischen schrillfarbenem Expressionismus, Picassos Devise einer radikalen Reduzierung aufs Kubische und den kräftigen, groben Farben eines Nolde oder auch Høst, war die Befremdung der studierten Künstlerkollegen verständlich – weniger allerdings ihr Dünkel. Heute erobern Grau- und Anthrazittöne die Innenraumgestaltung und so verwundert auch vor diesem Trend das neu erwachende Interesse an Johansen nicht. Johansen wirkt heute moderner als zu seinen Lebzeiten.
Die Insel hat zwei Gesichter – eines zeigt sich bei Sonnenschein: Kräftige, strahlende Farben und Kontraste der Ostküste leuchten wie nirgends sonst in Dänemark, heben die Stimmung [5]. Das andere Gesicht wird von Urlaubern weniger goutiert oder von ihnen sogar nie erlebt: wenn sich eine dunkle Wolkendecke über die Insel schiebt, Schauer herunterprasseln und das Licht sich durch einen Grauschleier kämpft. Ausserhalb der sommerlichen Hochsaison, im Herbst, Winter, Frühjahr, sind viele Bilder Johansens entstanden. Wer diese graue Seite der Ostseeinsel erlebt hat und schätzt, wird vom Purismus des Malers besonders angezogen sein.
Bornholms Oluf Høst ist heute der bekannteste Inselmaler, er bildete den Kern der „Bornholmer Schule“. Er war bemüht, die neuesten künstlerischen Tendenzen aufzugreifen und zu verarbeiten, ließ sich z.B. vom sommerlichen schwedischen Besucher Karl Isakson anregen, der von Gustave Moreau, Eugène Delacroix und Édouard Manet beeinflusst war und sich in Paris mit Werken von Pablo Picasso, Paul Cézanne und Georges Braques vertraut gemacht hatte. Mehr als 200-mal hat Høst seine Scheune „Bognemark“ in Gudhjem gemalt – man könnte darin provinzielle Beschränktheit sehen – aber zu allen Jahres- und Tageszeiten fand er andere Farben und anderes Licht.
Das Motiv wurde bei Høst mit der Zeit immer unwichtiger, der Gegenstand trat hinter dem Ausdruck zurück. Ähnlich auch bei Oluf Rude, der vielfach die gleichen Motive wählte, mitunter einfach den Fensterblick aus seinem Atelier in Allinge. Johansen sah dagegen seine Motive überall draußen, in der Landschaft West-Bornholms, hatte einen Blick für die vom Menschen geformte Natur – selbst ein Heuhaufen 7 , Telefonmasten im Winter 10 oder vier Kühe auf der Weide 4 reichten ihm für ein Ölgemälde. Nicht ein einziges Motiv malte er auch nur zweimal, jedes Bild ein wirkliches Unikat. Sein Blick auf die Welt schult unser Auge, auch im Schlichten, scheinbar Unbedeutenden, etwas Großartiges zu entdecken. Kraftvolle Vereinfachung und Verdunkelung von Form und Farbe schaffen einen dramatischen Raum, in dem menschliche Spuren der Natur ausgesetzt sind [6].
Auf Bornholm soll der uneheliche Sohn eines Fischers einsam gelebt haben, er schlief inmitten seiner Werke auf dem Dachboden eines Bauernhauses. Die Distanz zu anderen Menschen spiegelt sich in seinen Werken: es gibt keine Porträts oder Akte, menschliche Behausungen sieht man aus „sicherer“ Distanz, als geometrisches Landschaftselement. Nur aus den 1910er Jahren existieren einige Stilleben wie „Døt havlit pÃ¥ køkkenbord“ = Meeresfrüchte auf dem Küchentisch (ca. 1916), „Opstilling med lys i flaske“ = Stilleben mit Licht und Flasche (ca. 1917), „Laurbærgren i Vase“ – Beerenschale und Vase (ca. 1918), „Vase og lampe“ = Vase und Lampe (ca. 1919). Schon das traurig wirkende Bild „Barnevogn in haven“ = Kinderwagen im Garten (ca. 1905) 9 setzt zwar einen verlassenen Kinderwagen ins Zentrum, aber auch hier kein Mensch zu sehen. Ist der Wagen wirklich leer? Man sieht es nicht genau.
Vielleicht war es gerade die Einsamkeit Bornholms, die den Maler anzog, der auf Kurzreisen auch die Natur Schwedens und Norwegens kennengelernt hatte. Um 1930 lebten auf Bornholm nur etwa 45.500 Insulaner, es gab noch kaum Infrastruktur. Erst die neue Fährverbindung von Kopenhagen brachte Touristen in die Sommerfrische. Viele Bilder machen auch dies deutlich: der Mensch ist hier quasi nicht vorhanden, zeigt sich nur anhand seiner Spuren – Landwirtschaft, Gebäude und etwas Technik wie im Bild „Telefonpæle i wintertÃ¥ge“ = Telefonmasten an Wintertagen (1937) 10 .
Von der Malerei konnte Johansen nicht existieren, er lebte vom Pinselverkauf an die Malerkollegen. Pinsel verkaufte er auch an den „großen“ Høst, der ihn für seinen Mal-Leidenschaft zwar irgendwie schätzte, aber nicht wirklich bewunderte und ihm gütig Leinwandreste seiner Großformater schenkte, auf denen Johansen dann seine kleinformatigen Werke schuf, meist sind diese nicht viel größer als A4. Ehrgeiz, sich mit den künstlerischen Strömungen seiner Zeit theoretisch oder experimentell auseinanderzusetzen, ging ihm völlig ab. Der Autodidakt machte stur und leidenschaftlich sein Ding. Manche Zeitgenossen schienen ihm diese innere Unabhängigkeit, diese Gradlinigkeit nachzutragen. „Claus Johansens Kunst ist vor allem eine für ihn selbst“ urteilte etwa der befreundete Maler Eli Rasmussen 1938 [7]. Dabei sehen wir hier bereits einen Individualismus und eine Sachlichkeit, die erst nach dem 2. Weltkrieg, etwa in den 60er Jahren, auf Interesse stießen: Johansen war seiner Zeit voraus. Nur die Bilder der letzten Jahre (1940-1943) zeigen plötzlich eine Entwicklung: hellere Farben und expressionistische Pinselstriche, das Akribische wird aufgegeben.
Viele Werke seiner Zeitgenossen wirken heute befremdlich, uninteressant, akademisch – wie die bemüht geometrischen Studien eines Isakson, die er dogmatisch in einem Zuge fertigstellen wollte oder verwarf, wenn er es nicht im ersten Anlauf schaffte. Picasso wirkt heute wie übriggeblieben aus einer fernen Zeit, die uns nur noch wenig zu sagen hat. Noldes bombastische oder geradezu karikative Religionsmotive oder die Wikinger-Werke, mit denen er sich vergeblich den Nationalsozialisten anbiederte [8], wirken auf uns heute naiv und unreif – nur einige Blumenmotive, die er lediglich zur Verharmlosung schuf, sprechen uns noch an. Johansen dagegen fesselt den heutigen Betrachter mit seiner eindeutigen, einfachen, klaren Sicht auf eine Landschaft, die mitunter erst auf den zweiten Blick ihre Schönheit enthüllt.
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(EH) Eva Horwarth: Kunstgeschichte. Malerei vom Mittelalter bis zur Pop-art, ISBN: 3-7701-2700-5.
(KÜ) Das Dänemark der Künstlerkolonien, ISBN: 978-87-88686-42-5.
(CJ) Claus Johansen, hrsg. Bornholms Kunstmuseum og Gudhjem Museum 2007, ISBN: 978-87-89059-78-5.
[1] Lars Kjærulf Møller zitiert nach web-veggie: Life on an Island in the Baltic Sea. ▲
[2] mutualart.com: Claus Johansen. ▲
[3] Im Besitz des Museums befinden sich 60 Werke des Künstlers. Ein systematisches Werkverzeichnis gibt es nicht, 250 bekannte Ölgemälde befinden sich verstreut in Privatbesitz. (CJ), S. 7 und 9. ▲
[4] (KÃœ), S. 110. ▲
[5] Das besondere Licht der Insel wird immer wieder beschrieben und entsteht möglicherweise durch die Reflexion der die Insel umgebenden Ostsee. Vgl. z.B. (KÃœ), S. 91. ▲
[6] Kunstindeks Danmark: Claus Johansen Biography. ▲
[7] (CJ), S. 19. ▲
[8] Vom 12. April 2019 bis 15. September 2019 fand im Hamburger Bahnhof in Berlin die Ausstellung statt: „Emil Nolde – Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus“. Schwerpunkt der Ausstellung war der Nachweis, dass Nolde nicht nur Mitglied der NSDAP war, sondern aktiver und überzeugter Nationalsozialist und Antisemit. Sein Ruf als „entarteter Künstler“ ist eine Legende, die nach dem Krieg entwickelt und gepflegt wurde und in den Schlüsselroman „Die Deutschstunde“ von Siegfried Lenz eingebettet wurde, dadurch Weltruhm erlangte. ▲
Beitragsbild: Mirke, 2019.
Verwendung des PICR-Logos mit freundlicher Genehmigung durch PICR, 19.05.2024.
7631.1 Claus Johansen, Gemeinfrei, bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 10.11.2019. ▲
7631.2 Claus Johansen, Gemeinfrei, bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 10.11.2019. ▲
7631.3 Claus Johansen, Gemeinfrei, bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 10.11.2019. ▲
7631.4 Claus Johansen, Gemeinfrei, bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 10.11.2019. ▲
7631.5 Claus Johansen, Gemeinfrei, bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 10.11.2019. ▲
7631.6 Claus Johansen, Public Domain, via Wikimedia Commons, bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 10.11.2019. ▲
7631.7 Claus Johansen, Gemeinfrei, bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 10.11.2019. ▲
7631.8 Claus Johansen, Gemeinfrei, bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 10.11.2019. ▲
7631.9 Claus Johansen, Gemeinfrei, bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 10.11.2019. ▲
7631.10 Claus Johansen, Gemeinfrei, bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 10.11.2019. ▲
7631.11 Claus Johansen, Gemeinfrei, bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 10.11.2019. ▲