Hirntod gilt Medizinern als Kriterium, dass ein Mensch gestorben ist. Umgekehrt ist der Nachweis erster Gehirnströme im Mutterleib das untrügliche Zeichen für neues Leben. Wissenschaftlern ist jetzt erstmals annähernd gelungen, was bisher der Figur des Dr. Frankenstein im gleichnamigen Roman von Mary Shelley (1818) vorbehalten war: Sie schufen im Labor kleine lebende Gehirne aus menschlichem Stammzellgewebe, sozusagen körperlose Homunculi [1].
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Die Forscher um Cleber Trujillo von der University of California, San Diego kultivierten induzierte pluripotente Stammzellen, die das Team aus menschlichen Hautzellen gewonnen hatte, in einer optimierten Umgebung. Sie veränderten die Zusammensetzung des Nährmediums „sowie die zeitliche Abfolge, in der bestimmte Faktoren hinzugegeben werden“ [2]. Hunderte von erbsengroßen Mini-Gehirnen ließen sie nun zehn Monate lang „reifen“ und maßen dabei hoffnungsvoll EEG-Aktivitäten. Und siehe da, schon nach zwei Monaten bemerkten die Forscher erste Hirnwellen, noch unterbrochen von Pausen. Diese wurden – wie bei der natürlichen Entwicklung des Menschen im Mutterleib auch – mit der Zeit immer kürzer, bis die kleinen Hirne kontinuierlich ausgeprägte Aktivitätsmuster zeigten, wie bei menschlichen Frühchen. Das Forscherteam berichtet, dass die gezüchteten Erbsenhirne sich zumindest zum Teil ähnlich entwickeln wie die Gehirne von Babys.
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Trujilos Kollege Alysson Muotri konstatiert nicht ohne Stolz: „Das Maß an neuronaler Aktivität, das wir in unseren Organoiden sehen, ist in vitro bisher noch nie dagewesen“. Dennoch könnten die Mini-Gehirne noch lange nicht bewusst denken, ist er sich sicher: „Das Organoid ist noch immer ein sehr rudimentäres Modell. Es funktioniert längst nicht so wie ein vollständiger Cortex, selbst eines Babys.“ Aus der eher technischen Formulierung lässt sich schließen, dass die Wissenschaftler weitermachen wollen … bis am Ende ein vollständiges Gehirn vorliegt?
Wozu das Ganze? Vorgeblich ausschließlich zum guten Zweck: In Zukunft könnten die Organoide dabei helfen, Leiden wie Epilepsie, Autismus oder Schizophrenie zu erforschen – Erkrankungen, die mit Fehlfunktionen von Hirnnetzen in Verbindung gebracht werden. Man könnte dann an den Minihirnen aus der Retorte forschen und wäre nicht mehr auf echtes Hirngewebe angewiesen (das man dazu Menschen entnimmt).
Moralische Skrupel haben die Forscher offenbar nicht, dabei stellen sich doch einige Fragen. Ist das Gehirn wirklich nur ein „Organ“ wie Leber und Milz – ist es nicht viel mehr? Ist das „Ich“, das René Descartes mit „Ego cogito, ego sum“ neu entdeckte, nur dem ordnungsgemäßen Zustand und Zusammenspiel von Organen und Körperteilen zu verdanken? Sitzt nicht das, was wir als „natürliche Person“ begreifen, im Gehirn? Wenn ein Herr Meier ein Bein verliert, wird es anschließend wohl nicht zu 20% als Herr Meier gelten, obwohl dies vielleicht dem Gewichtsanteil an Meiers Gesamtkörper entspräche. Man würde den Teil des Körpers, an dem der Kopf vorhanden ist, automatisch weiterhin als die Person Meier sehen, auch wenn diese nunmehr (in ihrer Beweglichkeit) eingeschränkt wäre.
Wenn die EEG-Aktivität der gezüchteten Erbsengehirne derjenigen von Frühchen im Mutterleib entspricht, ist man dann nicht auf dem Wege, menschliche Wesen zu erzeugen, denen auch Rechte zustehen müssten wie die menschliche Würde, die Selbstbestimmung oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit? Kann man die menschlichen Minihirne wirklich nur als bloßes „Zellmaterial“ sehen, das zu Versuchszwecken einfach verbraucht wird? Empfinden diese Minihirn-Wesen vielleicht etwas, erleben sie etwas, eine Art Locked-in-Syndrom – ein Schweben zwischen Träumen und Wachen, ohne Chancen, sich mit der Welt zu verbinden? Wäre dann folgerichtig die Entwicklung eines Brain-Computer-Interfaces nicht eine verpflichtende Notwendigkeit? Hätten diese Wesen nicht ein Recht darauf [3]? Elon Musk steht mit seinem Startup Neuralink jedenfalls bereit, das menschliche Gehirn mit einem PC zu verbinden [4].
Manchen gilt das Hirn nicht nur als Körperorgan, sondern als „Sitz der Seele“ – wo sollte man sie auch sonst verorten. Schon der Philosoph Platon vermutete den genauen Sitz der „unsterblichen Seele“ im Gehirn, auch der deutsche Gehirnforscher Gerhard Roth sieht es so – wenngleich dieser einen neuen, sehr reduzierten Seelenbegriff verwendet [5]. Jahrtausendelang hatte man eine Vorstellung von „Seele“. In Dutzenden, wenn nicht allen Religionen, spielt er eine Rolle. Selbst moderne Physiker wie der inzwischen verstorbene ehemalige Leiter des Max-Planck-Instituts in München, Professor Hans-Peter Dürr, gingen von der Existenz einer Seele aus, die zum physikalischen Doppelcharakter von Körper und Geist dazugehöre [6].
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Sind die Minihirne nur seelenlose Zellhaufen? Wer will das mit Sicherheit sagen. Doch in unserer Zeit des dogmatischen Neorationalismus‘ [7], dem andererseits mitgefühlfreier, irrationaler Nationalismus gegenübersteht, ist für Spiritualität kein Platz. Der österreichische Psychotherapeut und Theologe Arnold Mettnitzer nennt Mitgefühl eine Kerneigenschaft des Lebendigen und der Seele. Diejenigen in der AfD, welche Flüchtlinge im Mittelmeer lieber jämmerlich ersaufen lassen wollen, statt unseren Lebensstandard mit ihnen zu teilen, wären danach seelenlos, „Zombies“.
Ãœberhaupt sehen manche wie der Kunstanthropologe Constantin von Barloewen in einer Verarmung der Seele heute Gründe für Krankheiten wie Depression und Burnout. Das Ignorieren von Spiritualität lässt uns menschlich vertrocknen wie das vom Klimawandel ausgedörrte Land und macht uns krank. Bedenkenlose Forschung wie das Züchten menschlicher Hirne lässt sich eigentlich nur vor diesem Hintergrund vorstellen. Wer kann denn ausschließen, dass unser Selbst, unsere Seele tatsächlich in einer Zwischenwelt oder anderen Dimension leuchtet und auf ihren nächsten Einsatz in einem Körper wartet, wie Platon es sich vorstellte? Dass so etwas wie Gottes Funke zu einer „Beseelung“ des Körpers, des Organs, des Zellgewebes, des Minihirns führt und wir es nun mit beseelten, weitgehend körperlosen Kleinstmenschen in einem Frühstadium zu tun haben?
Wenn es um die Seele geht, dann – sollte man annehmen – wären die Kirchen nicht weit. Aber nix da, die Herren aus dem Vatikan verurteilen zwar schwangere Frauen scharf für eine Abtreibung, künstlich erzeugtes menschliches Leben scheint ihnen aber gleichgültig. Das konservative Dogma der katholischen Kirche lautet – bezogen auf Schwangerschaftsabbrüche: Schon im ersten Augenblick seines Daseins seien dem menschlichen Wesen die Rechte der Person zuzuerkennen, darunter das unverletzliche Recht jedes unschuldigen Wesens auf das Leben. Der „erste Augenblick des Daseins“ wird von einigen Ethikern mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, also dem Entstehen der befruchteten Eizelle, gleichgesetzt. Gemessen daran sind wir in der Minihirn-Forschung schon sehr viel weiter. Wir haben ein funktionierendes, ein lebendes Gehirn. Wenn ein Schwangerschaftsabbruch gleichzusetzen sei mit der Tötung eines Menschen, die direkte Mitwirkung ein schweres Vergehen [8] wäre – wie wäre denn der Umgang mit dem in vitro erzeugten lebenden Hirnmaterial in der Forschung wohl zu bewerten? Es ist verwunderlich, dass gerade die Kirchen sich hierzu noch nicht positioniert haben und sich mit aktuellen, drängenden ethischen Fragen nicht befassen.
Vermutlich verfolgt man im Pentagon und anderswo die Hirnforschung mit großem Interesse, wenn man sie nicht sogar finanziert (➥ Brauchen wir Künstliche Intelligenz?). Wie heute üblich, nutzten die Forscher bei der Bewertung der Hirnströme Künstliche Intelligenz. Und genau an dieser Stelle erscheint vor dem geistigen Auge eine Art KI-Mensch-Wesen wie Dr. Frankensteins Monster: Autonome Waffensysteme, gesteuert von menschlichen Minihirnen, die fabrikmäßig gezüchtet werden. „Ich sah das schreckliche Zerrbild eines Menschen ausgestreckt daliegen und sich dann plump, maschinenmäßig regen“. Und: „Er schläft, aber nicht tief; er öffnet plötzlich die Augen – an seinem Bett steht das Ungeheuer, hält die Vorhänge auseinander und starrt auf ihn mit seinen gelben, wässrigen aber aufmerksamen Augen“ [9]. Müssen wir wirklich alles machen, nur weil wir es können?
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[1] sciencedirekt: Complex Oscillatory Waves Emerging from Cortical Organoids Model Early Human Brain Network Development. ▲
[2] wissenschaft.de: Retortenhirne zeigen komplexe Aktivität. ▲
[3] amnesty.de: Alle 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Artikel 1 setzt allerdings eine „Geburt“ als Kriterium fürs Menschsein voraus: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ (Art. 1). ▲
[4] ingenieur.de: Elon Musk will das menschliche Gehirn mit einem PC verbinden. Das geplante Brain-Computer-Interface soll über direkt im Gehirn implantierte Elektroden funktionieren: invasive Neuroprothesen. Die „Borg“ von Startrek oder Fitz und Simmons aus der Serie „Agents of Shield“ lassen grüßen. Mehr dazu auch bei Youtube: Neuralink Launch Event. ▲
[5] spiegel.de: Gerhard Roth ortet die Seele im Gehirn. ▲
[6] welt.de: Quantenphysik: Die Seele existiert auch nach dem Tod. Der vielfach geehrte Dürr war auch Mitarbeiter von Werner Heisenberg und starb 2014. ▲
[7] Dazu rechne ich Strömungen, die alles in den Bereich von Metaphysik und Esoterik verbannen wollen, was nicht schon wissenschaftlich bewiesen wurde. Vertreten wird ein altertümlich anmutender, reduktionistischer Determinismus. Sie blenden aus, dass wissenschaftliche Erkenntnis dauernd in Bewegung ist, sowohl was Methoden wie Erkenntnisstand angeht. Vgl. dazu auch das sehr anregende Büchlein von Thomas Bauer: „Die Vereindeutigung der Welt. Ãœber den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, ISBN: 978-3-15-019492-8. „Das zweite grundlegende Merkmal des Fundamentalismus besteht … in der Ablehnung von Geschichte“, S. 28.
Es kommt zu krassen Auswüchsen wie dem sogenannten „Transhumanismus“ – interessanterweise selbst reichlich irrational und weitgehend frei von Ethik. Anhänger dieser Richtung sind davon überzeugt, dass sich ein Mensch (samt Ich, Selbst und Seele) demnächst per Upload in die Cloud laden lässt. Die Seele kommt also nicht in den Himmel, sondern nur noch in die Datenwolke – ein Computer-Abziehbild jahrtausendelanger metaphysischer Anstrengungen, ein neorationaler Glaube so wie es der religiöse war – nur mit pseudowissenschaftlichem Anstrich. Siehe hierzu die recht unterhaltsame Science-Fiction-Serie „Upload“ von 2020. ▲
[8] wikipedia.org: Schwangerschaftsabbruch ▲
[9] Mary Shelley: Frankenstein, Vorwort. ▲
Beitragsbild: vasabii777, 21612083 via ClipDealer, 21.09.2021.
Verwendung des PICR-Logos mit freundlicher Genehmigung durch PICR, 19.05.2024.
7673.1 Zitat aus wissensschau.de/Volker Henn, mit freundl. Genehmigung durch Dr. Volker Henn, 22.09.2021. ▲
7673.2 sciencedirect.com/Elsevier, Copyright gem. Terms and Conditions, 21.09.2021. ▲