„Querdenker“ bereiten den geistigen Boden für eine Diktatur

Eine seltsame Allianz aus Realitätsverweigerern glaubt auch noch mitten in der 4. Welle, COVID-19 sei harmlos, die Pandemie eine Ãœbertreibung. Rechtsradikale, AfDler, einige Ärzte, Reichsbürger und Verschwörungstheoretiker wie Attila Hildmann [1] oder Prominente wie Ex-Bundestorwart Jens Lehmann [2] oder Schlagersängerin Nena [3] und Musiker wie Eric Clapton [4], viele Heilpraktiker*innen, Homöopath*innen und die „Verquert-Denker“ sind sich einig mit dem schrecklichen brasilianischen Präsidenten Bolsonaro [5] oder Ex-US-Präsident Trump [6]: die Pandemie sei eine Erfindung der Medien oder sie werde von selbst wieder verschwinden und die Maßnahmen seien übertrieben. Ein Teilnehmer einer Demonstration gegen den Shutdown brachte es auf den zugespitzten Punkt: Viren gebe es gar nicht, denn noch habe sie ja keiner mit bloßem Auge gesehen. Gibt es also auch keine Elektrizität, keine Schallwellen, Atome oder Radioaktivität? Die moderne Wissenschaft, der wir unseren Lebensstandard verdanken, alles nur eine Einbildung?

Corona-Todeszahlen werden faktisch ignoriert oder umgedeutet und das weltweit überlastete Personal in überfüllten Krankenhäusern von der Wahrnehmung mitleidlos ausgeblendet. Wie schlimm muss es werden, wieviele Millionen Tote sind weltweit noch nötig, dass ein solcher Ignorant Einsicht zeigt? Wir hörten von Querdenkern, die noch während des Sterbens im Krankenhaus nicht glauben wollten, dass sie an Covid-19 erkrankt seien [7] und ihren Mit-Querdenkern empfahlen: Weiter so. Hier geht Realitätsverleugnung in Fanatismus über: das Offensichtliche, unmittelbar Evidente – weil Erlebte – wird noch pathologisch umgedeutet, dass eben nicht sein kann, was nicht sein soll. Eine Impfung sei nicht erforderlich oder wegen Nebenwirkungen nicht anzuraten, hört man von Fußballern wie Joshua Kimmich [8]. Wir haben das große Glück, dass in kürzester Zeit tatsächlich wirksame Impfstoffe hergestellt werden konnten – das aber wird dem Impfstoff nun geradezu angekreidet: Ein Vakzin, welches so schnell entwickelt wurde, könne schließlich nicht sicher sein, hörte ich neulich eine junge Mutter fabulieren. Eine Impfung gebe schließlich auch keine Sicherheit, wird mit Verweis auf Impfdurchbrüche „argumentiert“, eine differenzierte, abwägende Betrachtung sucht man vergeblich. Da es doch immer wieder Verletzte und Tote bei Autounfällen gibt, bringt die Gurtpflicht nichts? Verquere Denke, die auf ein tiefes Misstrauen gegenüber der Wissenschaft, der Medizin, der Pharmaindustrie, den Medien, dem Staat und seinen politischen Vertretern zurückgeht.

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Hoffentlich nicht.

Wir leben zum Glück in einem Land, wo jeder das Recht hat, sich aus öffentlich zugänglichen Quellen frei zu informieren, sich eine Meinung zu bilden und diese öffentlich zu vertreten. Allerdings muss zuerst überhaupt ein Informationsbedürfnis vorhanden sein und die Erkenntnis, (noch) nicht (ausreichend) zu wissen. Um das zu erkennen, muss man bereit sein, die eigene Unvollkommenheit einzugestehen, geradeaus zu denken und nicht mit dem Bauch oder anderen Organen. Wer nur glaubt was ihm passt, nichts dazulernen will, braucht diese Freiheit nicht, lehnt sie mitsamt der Wahrheit rundheraus ab und trägt damit gerade zu ihrer Schwächung bei. Wer stur einen unbeweisbaren „Verdacht“ spürt und diesem mehr Vertrauen schenkt als der Wirklichkeit, verhält sich wie ein Schizophrener [9], der seinen inneren Stimmen folgt und sich von nichts Äußerem überzeugen lässt. „Häufig leiden die Patienten unter Verfolgungswahn: Sie sind fest davon überzeugt, dass sie von anderen Menschen überwacht werden und diese ihnen Schaden zufügen wollen. Demzufolge entwickeln die Patienten anderen gegenüber großes Misstrauen. Viele Patienten mit paranoider Schizophrenie glauben, dass sie in ihrer Wohnung beobachtet und abgehört werden. Manche fühlen sich auch von Außerirdischen verfolgt“ [10]. Leben wir in einer psychisch kranken Gesellschaft? Benötigen 15% unserer Erwachsenen eine psychiatrische Therapie?

Absurd verdrehte Ver-quert-denker stellen das Fundament der modernen Gesellschaft infrage. Denn dieses ist wissenschaftliche Rationalität, eine jedem zugängliche Nachprüfbarkeit von Tatsachen. Wissenschaft verkörpert diese Rationalität in idealer Weise. Forschungsergebnisse werden anerkannt, sofern sie sich bestätigen lassen. Dies gilt auch in der Medizin und besonders im Hinblick auf SARS-CoV-2: Schrittchenweise mussten sich die Forscher seit Januar 2020 Wissen über das Virus aneignen, inzwischen gibt es zahllose Studien, die zumindest eines belegen: Diese Krankheit ist alles andere als harmlos, nicht „nur wie Grippe“, auch wenn es uns hätte noch schlimmer treffen können – siehe Ebola oder die mittelalterliche Pest. Manch ein Wissenschaftler warnt bereits vor einer Pandemie mit „Superviren“ [11].

Doch sehen wir zunehmend Nachlässigkeit im Alltag, Ãœberdruss hinsichtlich Vorsichtsmaßnahmen – dies ist Ausdruck einer kindlichen Verdrängung: wenn wir nicht hinschauen, gibt es dort nichts. Manche Erwachsenen tarnen ihre Naivität, vielleicht auch Dummheit, Gleichgültigkeit oder Lebensüberdruss, mit Gott- oder Schicksalsergebenheit: „Ich schütze mich nicht. Wenn ich krank werden soll, dann soll es eben so sein“, so eine Verkäuferin. In einer Zeit, da die Welt, wie wir sie kennen, grundlegend bedroht ist, wollen sich manche nur noch mental abschotten. Tanzen wir schnell nochmal ums Goldene Kalb, feiern wir Karneval als gebe es kein Morgen, bevor alles vorbei ist [12].

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Radikale Verweigerer sehen ausgerechnet in der schützenden Maske das feindliche Symbol und versuchen, Begriffe wie „Freiheit“ und „Demokratie“ für sich zu okkupieren. Sie begreifen nicht, dass persönliche Freiheit nicht nur Handlungsfreiheit für eine Person, sondern auch Freiheit von Krankheit und anderen Ãœbeln sein kann. Garant für diese Freiheit wäre die Impfpflicht gewesen; solange Impfwillige aber wieder weggeschickt werden, weil nicht genug Impfstoff vorhanden sei oder Termine nur schwer und schlecht organisiert zu bekommen sind wie in Berlin, braucht man über eine Verpflichtung nicht zu diskutieren. Eine blinde Entscheidung für ein gefährliches „Weiter-so-wie-vorher“ hat jedenfalls mit Freiheit nichts zu tun. „Ich will doch nur, dass alles wieder normal ist.“ Ein kindlicher Wunsch, der leider nicht in Erfüllung gehen wird. Seit dem Frühjahr 2020 ist alles anders geworden und auch die Klimakatastrophe trägt dazu bei, dass nichts mehr so sein wird wie früher.

Der sogenannte „Freedom Day“ ist schon vom Begriff her pure Ideologie. Coronaleugner und Impf-Verweigerer spalten die Gesellschaft. Was sie für Demokratie halten, liefe auf eine unsoziale Herrschaft willkürlicher, nicht nachprüfbarer und falscher Dogmen ohne Presse- (und damit Meinungs-)freiheit hinaus, auf eine klare Corona-Diktatur. Gerade in Deutschland müssten wir doch wissen, dass Irrationalität und Fanatismus das Fundament für schreckliches Unrecht sein können. Die Impf-Widerständler sind Viel-zu-spät-Gekommene, deren scheinbares Engagement für Demokratie man sich 1933 in großer Zahl gewünscht hätte, als sich in Deutschland tatsächlich eine braune Diktatur mit dem Ermächtigungsgesetz, nach dem Reichstagsbrand, etablierte. Heute aber brauchen wir in Deutschland keine Demonstranten, die ein Schild mit dem Wort „Demokratie“ vor sich her tragen – anders als in anderen Ländern wie etwa der Türkei, Ungarn, Polen, Belarus, Russland oder China.

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Protestplakat am Berliner Tiergarten: Für Manches bietet nur noch die Psychoanalyse Erklärungsansätze.

Versatzstücke aus anderen, linken und rechten Protestbewegungen der deutschen Nachkriegsgeschichte werden übernommen, obwohl sie in diesem Zusammenhang deplatziert sind. Berechtigte Kritik an der Geschäftspolitik der Pharmaindustrie, wie sie sich in den 80er Jahren im Bestseller „Bittere Pillen“ von Kurt Langbein, Hans-Peter Martin und Hans Weiss kristallisierte, wird zur Impf-Paranoia verdreht, hinter der womöglich Bill Gates steckt. Der Slogan „Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“, der die Anti-Atomkraft-Bewegung und die Proteste gegen die Volkszählung begleitete, kommt zu neuem, zweifelhaftem Einsatz. Hass auf die öffentlich-rechtlichen Medien, denen Gleichschaltung im Interesse der Regierung unterstellt wird wie seinerzeit in der DDR, wird bei Pegida aus Sachsen entliehen.

Mitunter sympathische Zeitgenossen entpuppen sich im Gespräch als verblendete Leugner – fast so, als gebe es einen ansteckenden Verquert-Denker-Virus, der die Menschen innerlich von „vernünftig“ in „irrational und aggressiv“ umpolt. Woher dieser Hass gegen ein harmloses und schützendes Stück Stoff vor Mund und Nase, warum diese Ãœberhöhung von Schutzmaßnahmen ins Feindlich-Diktatorische? Psychologisch eine Projektion: Obwohl man selbst autoritär geprägt ist, wettert man gegen staatliche Autorität, die heute immerhin demokratisch legitimiert ist, und bereitet damit geistig den Boden für eine Diktatur, wie man sie von der DDR her kannte. Oft steht immer noch grundlegende Unkenntnis dahinter, wie unser westdeutsches Staatswesen und wie unsere Medienwelt funktionieren – echte Aufklärung aber will man nicht.

Ignoranten, die behaupten, eine „Basis“ darzustellen und für Freiheit und Demokratie einzutreten, bringen uns in Gefahr. Maske und Impfung schützen nicht nur einen selbst, sondern eben auch die anderen. So, wie auch Kontaktbeschränkungen oder ein Lockdown, wenn es nicht anders geht. Die Querdenker-Bewegung ist zutiefst egoistisch und unsozial, ja gegenüber den vulnerablen Gruppen und dem medizinischen Personal menschenfeindlich. Die Millionen Toten – jeder einzelne Mensch unersetzbar und wertvoll – werden statistisch relativiert. Sie spaltet unsere Gesellschaft, denn wer von leichtsinnigen Menschen mit Ansteckung bedroht wird, empfindet selbst verständlicherweise Ärger und Wut. Hinzu kommt die wachsende Radikalisierung der Coronaleugner: Vernünftige Impf-Verfechter werden im Netz beleidigt und sogar mit Mord bedroht [13].

Impfen hat Nebenwirkungen – aber was sind diese gegen die Corona-Krankheit, Long Covid und die von den Coronaspinnern beklagte „Dauerwelle“, für die sie selbst wegen der zu niedrigen Impfquote in Deutschland mitverantwortlich sind? Man hätte nicht alle Forschungsgelder in die Entwicklung des Impfstoffs allein investieren sollen, sondern gleichermaßen in antivirale Heilmittel. Aber die Situation ist wie sie ist und fordert von uns allen, die wir schließlich von der Gemeinschaft profitieren, eben auch die Solidarität, sich und andere so gut man kann zu schützen. Ãœber das Wie kann man diskutieren. Aber klar ist: Die niedrige Impfquote fördert Mutationen des Virus und sorgt mit dafür, dass wir Covid-19 nicht loswerden. Diese Verquert-Denker liegen uns quer im Magen, denn man kann mit ihnen nicht argumentieren, es gibt keine Gesprächsgrundlagen, auf die man sich einigen könnte, Fakten werden nicht akzeptiert.

Grundlage der Demonstrationsfreiheit ist die Annahme, dass sich Menschen versammeln, ihre Ansichten öffentlich vertreten, um im Dialog mit dem Rest der Gesellschaft zur Mehrheit zu werden und politisch Einfluss zu nehmen. Diese Ambition fehlt den Coronaverdrängern. Im Netz hagelt es Beschimpfungen und Beleidigungen. Bei einer Querdenker-Demo in Berlin-Friedrichshain fährt ein Radfahrer an den PKW vorbei, die wegen der Demonstration im Stau stehen, und zeigt ihnen den Mittelfinger. Andere gehen an die Straßenbahnhaltestellen, beschimpfen die dort mit Maske geschützten Wartenden. Ein Transparent erklärt: „Wir sind das Volk – Ihr seid das Pack“ [14]. So gewinnt man keine Freunde – und auch keine Mehrheiten. Sie verstehen nicht, wie Demokratie funktioniert: nämlich durch Ãœberzeugung Andersdenkender.

In seiner Harzreise formulierte schon Heinrich Heine es ironisch so: „Das ist schön bei uns Deutschen: Keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht“ [15]. Vor unserem geschichtlichen Hintergrund aber, den Heine noch nicht kennen konnte, bleibt uns das Lachen im Halse stecken. Gegen Maskenverweigerer und Querdenker argumentieren zu wollen, ist aussichtslos. Gegen Irrationalität helfen leider keine rationalen Argumente. Es ist genauso aussichtslos, wie einem Schizophrenie-Patienten ausreden zu wollen, dass er Stimmen hört.

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Fußnoten

[1] zdf.de: Brandenburgs Staatsschutz prüft: Auf welche Mythen Hildmann zurückgreift 

[2] tz.de: Umstrittene Ansichten: Lehmann legt mit steiler Corona-These nach, die sogar ein Sportmediziner „untersucht“ 

[3] swr.de: Polizei prüft Vorfall: Sängerin Nena feiert Party mit „Querdenkern“ 

[4] derbund.ch: Vom Rockstar zum Corona-Skeptiker – Der tiefe Fall des Eric Clapton 

[5] spiegel.de: Ungeimpft: Brasiliens Präsident darf nicht zum Fußball 

[6] tagesschau.de: Trump und die Pandemie: Relativieren und verwirren 

[7] kreiszeitung.de: Klinikum in Darmstadt: Querdenker mit Atemnot auf Intensivstation – und bleibt trotzdem Impfgegner 

[8] sport.sky.de: Free-VIDEO! Kimmichs bemerkenswertes Interview bei Sky 

[9] netdoktor.de: Schizophrenie 

[10] netdoktor.de: Paranoide Schizophrenie 

[11] n-tv.de: „Katastrophe für die Menschheit“: Fauci warnt vor zukünftigen Super-Viren 

[12] tz.de: Trotz Corona-Rekordwerten: Menschenmassen beim Karneval – Fassungslosigkeit im Netz: „Verstörend“ 

[13] de.nachrichten.yahoo.com: Hazel Brugger: Morddrohungen nach Impf-Äußerungen 

[14] Zitiert von einem Plakat bei einer Corona-Demo am 18. November 2020 in Berlin. 

[15] Heinrich Heine: Die Harzreise, Reclam Verlag Leipzig, Nach Adolph Strodtmanns Handexemplar berichtigt und herausgegeben von Oto F. Lachmann, E-Book, S. 34. 

© Beitragsbild: geralt @pixabay 19.11.2021.

8710.1   Ivan Radic, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons, bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 17.11.2021.  

8710.2   Leonhard Lenz, CC0, via Wikimedia Commons, bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 19.11.2021.  

8710.3   Wald-Burger8, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons, bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 19.11.2021.  

8710.4   Geoprofi Lars, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons, bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 17.11.2021.  

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