Die russische Antonow An-2 gilt als der größte heute noch fliegende, einmotorige Doppeldecker der Welt. Konstruktionsjahr ist 1947. Am Flughafen Heringsdorf unterhält Geschäftsführer Holger Röhr einen dieser Oldtimer und bietet mit seiner LTS LuftTaxiService GmbH u.a. Rundflüge über Usedom an [1]. Der etwa 40-jährige Röhr ist Allroundmann, macht Telefon- und Bürodienst, wartet die Maschine und ist auch der Pilot.
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An der Ahlbecker Promenade entdecke ich ein Schild, auf dem die „Classic-Antonow“ mit dem Slogan „Nostalgie mit Sicherheit“ beworben wird. Angerufen, gebucht und sofort los – denn es ist noch ein Plätzchen frei – ohne Gepäck dürfen es bis zu 12 Passagiere sein. Der Flughafen ist dank Corona fast vereinsamt und nur abends kommt noch eine Linienmaschine im Badeort an. Ansonsten parken hier einige schnittige Sportflugzeuge wie z.B. moderne Cessnas oder Piper. Durch den Zaun kann man schon mal den sowjetischen „Traktor der Lüfte“ von weitem bewundern, der bis 1987 hergestellt wurde und als „extrem sicher“ [2] gilt. Die Unfallstatistik sagt, die Antonow ist eines der sichersten Flugzeuge überhaupt [3]. Die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR hatte dieses Exemplar (Baujahr 1975) bis zur Wende im Besitz. Danach wurde der alte „Donnervogel“ mehrfach restauriert und neu lackiert und hat heute als eines von nur noch wenigen Exemplaren unter der Kennung 804 die Zulassung zum Personenluftverkehr durch das Luftfahrt-Bundesamt (LBA).
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Bevor es losgeht, muss Röhr erstmal nachschauen, ob Öl fließt, wenn er den großen Propeller mit Muskelkraft dreht. Falls nicht, könnte dieser blockieren und der 9-Zylinder-Sternmotor die Getriebe-Innereien mit seinen 1.000 PS geradezu zerfetzen. Öl läuft – alles gut. Dann folgen noch auf dem Flugplatz die vorgeschriebenen Sicherheitseinweisungen, eine Notlandung hat der Pilot mit seinen etwa 1.000 Flugstunden – allein auf der Antonow – aber noch nicht erlebt. Zur Not kann man die Glashaube der Pilotenkanzel wegklappen und über das Dach und seitlich eingelassene Tritte von der Maschine krabbeln, wenn das „Arbeitstier der Lüfte“ denn doch mal notwassern sollte. Nun heißt es einsteigen, ganz corona-gerecht mit FFP2-Maske, und drinnen erwartet einen brütende Hitze. Moderne Annehmlichkeiten wie etwa eine Klimaanlage sind hier natürlich nicht zu erwarten. An der Decke sind seitlich-horizontal Stangen angebracht, an denen sich die Fallschirmspringer der NVA bis kurz vor dem Sprung bei offener Tür sicherten.
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Als letzter schließt der Pilot die Tür und schlängelt sich zum Pilotensitz vorne links vor. Die Kanzel ist sauber, aber man sieht ihr das Alter an: Hier und da blättert der Lack ab, klebt Staub. Kippschalter, Armaturen wie in einem alten VW – nur eben sehr viele davon. Unten an der Seite in Griffweite des Pilotenarms ein Handfeuerlöscher. Auf Handzeichen des Piloten darf man nach dem Start den Gurt lösen und auch die Plätze tauschen. Nur nach hinten darf man nicht gehen, weil die „Anna“ dann aus dem Gleichgewicht geraten könnte.
Nun wird es spannend: Der Pilot wirft den Anlasser an, die Maschine bebt und röhrt los wie ein alter Dieseltraktor. Schwarze Rauchwolken vernebeln kurz die Sicht aus den kleinen, seitlichen Bullaugen. Röhr hat die Startfreigabe und gibt Gas. Ãœber den unteren Flügel rinnt etwas Motorenöl, weggepustet von der Kraft des Propellers. Nun wird es lauter, der Motor dröhnt schon ganz ordentlich, und wir rollen zur Startbahn. Auf geht’s, Anlauf … und gefühlt nach wenigen Metern hebt die Maschine auch schon ab.
Tatsächlich braucht die Antonow mit ihrem maximalen Startgewicht von 5,5 Tonnen und einer Spannweite von 18,2 Metern nur gut 200 Meter Startbahn, eine Wiese reicht ihr im Prinzip aus. Entworfen hatte sie der russische Flugzeugkonstrukteur Oleg Konstantinowitsch Antonow für das sowjetische Landwirtschaftsministerium, gebaut wurden von dem „Doppeldecker-VW“ mehr als 18.000 Exemplare. Die Maschine eignete sich gut für die Versorgung auch abgelegener und wenig erschlossener Gebiete der UdSSR. Selbst in China wurden ab 1957 in Lizenz als Fongsu-2 oder Yunshuji-5 (Y-5) insgesamt 938 Exemplare des genügsamen Doppeldeckers gebaut und 160 von ihnen gelangten nach Nordkorea [4]. Die russische Firma „Ural Works of Civil Aviation“ will sogar ein modernisiertes Nachfolgemodell in Serienproduktion auf den Markt bringen [5].
Nun dröhnt der 1.000-PS-Sternmotor bei maximaler Lautstärke von geschätzten 90 dB, Gespräche sind kaum noch möglich. Das Flugzeug vibriert ganz ordentlich und zieht rasch nach oben. Nach kurzer Zeit haben wir die gemütliche, maximale Reisegeschwindigkeit von etwa 200 km/h erreicht, bei einer Höhe von etwa 600 Metern. Flögen wir entlang einer Autobahn, könnte uns ein Sportwagen abhängen.
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Links die Seebrücke, rechts die Reha-Klinik Ahlbeck.
600 Meter sind eine gute Höhe, um unten noch alles deutlich erkennen zu können. Nach dem Start gen Osten drehen wir plötzlich eine Kurve mit gutem Blick auf Ahlbeck, die Reha-Klinik und die Seebrücke (links) und steuern dann nach Westen, der Küste folgend. Die Sicht ist gut, wenn auch etwas bläulich-dunstig. So geht es über die drei Dreikaiserbäder (Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin) weiter entlang der Strandlinie über Uckeritz, Zinnowitz, Karshagen. Am Flugplatz Peenemünde überqueren wir das ehemalige Raketentestgelände, von dem aus 1942 zum ersten Mal ein menschengemachter Flugkörper (eine V2) das Weltall touchierte (➥ Raketen aus Peenemünde: Die Anfänge). Rechts in der Ferne sieht man die Insel Rügen.
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Wie schon kurz nach dem Start klappt die Anna am Peenemünder Haken plötzlich nach links weg – aber keine Sorge, alles ist in Ordnung. Der Pilot geht in eine Linkskurve. Die Kursänderung ist nicht weich und übergangslos, sondern recht unerwartet und abrupt. Genauso plötzlich ist die Wende auch wieder zuende und es geht gemütlich über Wolgast, Gnitz weiter nach Mellenthin entlang des Achterwassers. Wir sinken langsam wieder Richtung Flughafen, Bäume und Häuser werden größer. Die Landung ist weich und nach kurzem Auslaufen steht die Antonow. An einigen Hasen vorbei rollen wir zum Parkplatz und der Pilot schaltet den Motor ab. Gefühlt waren es 10 Minuten, tatsächlich ging der Flug über mehr als 30 Minuten.
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[1] Die LTS erreicht man unter http://www.classic-antonow.de. Usedom betreffend werden ein kleiner und ein größerer Rundflug angeboten, Tel.: +49 (0) 3341 31 22 77. ▲
[2] LTS LuftTaxiService: Flyer. ▲
[3] classicwings-bavaria.de: Antonov AN-2 Technische Daten. ▲
[4] wikipedia.org: Antonow An-2. ▲
[5] aerotelegraph.com: Russland plant Nachfolger für Traktor der Lüfte. ▲
Beitragsbild: Mirke, 01.08.2020.
Verwendung des PICR-Logos mit freundlicher Genehmigung durch PICR, 19.05.2024.
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Wow, die Antonow! Toll, wieder einmal einen Bericht darüber zu lesen, herzlichen Dank und liebe Grüsse aus der Schweiz!