Wien, 14. Oktober 2024. Der Maler Friedensreich Hundertwasser liebte das Motiv der Spirale
Umso mehr erstaunt, dass sich der Erfinder der Humustoilette 1987 vom Wiener Bürgermeister Helmut Zilk überzeugen ließ, die am 15. Mai abgebrannte und nun neu zu errichtende Müllverbrennungsanlage in Wien-Spittelau (Titelbild) in seinem Stil zu gestalten. Kostenpunkt für die „Behübschung“: 88 Millionen Schil
Hundertwasser ließ sich damals sogar überzeugen, mit mehreren Postern für Fernwärme aus der Anlage zu werben. „Man muss für die sofortigen Notwendigkeiten nicht nur das kleinere Ãœbel, sondern den einzig möglichen Ausweg zur Zeit wählen und täglich für eine bessere Zukunft kämpfen“ [4]. In der Praxis wählen die Menschen das zeitsparende kleinere Ãœbel und kämpfen dann nicht.
Die Gedanken des Wiener Künstlers zum Thema Müll sind heute aktueller denn je: „Wir selbst, wir alle, jeder einzelne Wiener, sind für unseren Müll verantwortlich. Wenn wir keinen Müll produzieren, kann keiner verbrannt werden. Boykottieren wir die Müllverbrennungsanlagen dadurch, dass wir ihr keinen Müll liefern. Ist das in Wien zur Zeit realisierbar? Man müsste den Müll kriminalisieren. Man müsste die Müllerzeuger, die Verpackungsindustrie, die Müllverursacher, die Müllmacher, d.h. uns alle empfindlich bestrafen, um eine radikale Müllvermeidung zu erreichen“ [5]. Hundertwasser übernahm die Umgestaltung unter der Bedingung, dass mit der Wiederinbetriebnahme der „thermischen Abfallbehandlungsanlage“ am Donaukanal ein wesentlicher Beitrag zur Verbesserung der Wiener Luft und zur Vernichtung der Schadstoffe im Abfall geleistet wird [6].
Mit den Vor- und Nachteilen der Verbrennungsanlage setzte sich „der Realist“ Hundertwasser intensiv auseinander, stellte sie abwägend gegenüber. Besonders positiv beeindruckte ihn die damals ultramoderne und neue Dioxinfilteranlage. Schwermetalle wie Kadmium, Blei, Zink, Chrom etc. würden zu 99.9 % ausgefiltert und gelangten somit nicht in Luft oder ins Grundwasser wie es bei Mülldeponien über Jahrzehnte hin der Fall war, wurde ihm versichert. Das machte Hoffnung auf Recycling: „Die Konzentration der Schwermetalle in den Filtern ist weitaus höher als in den Bergwerken und die Rückgewinnung der Schwermetalle ist sehr viel einfacher und energiesparender. Man gewinnt hohe Mengen von Schwermetallen, die normalerweise nicht nur verloren gehen, sondern uns alle vergiften“ [7]. Das System zur Entfernung von Stickoxiden (Denox) mache auch Flugasche und Schlacke unschädlich. Die Anlage wird dank Hundertwassers Behübschung heute als Wiener Wahrzeichen gefeiert: „In der Spittelau vereint sich ein sinnvoller Kreislauf von Wertstoffen, der sich nicht nur in der architektonischen Gestaltung zeigt, sondern auch in der Dachbegrünung und Baumbepflanzung. Diese bringen auf dem Müllbunkerdach die Natur zurück. Turmfalken haben ein Heim in den am Dach eingebauten Nistplätzen gefunden“ [8].
Tatsächlich war die Anlage zur Zeit ihrer Inbetriebnahme 1992 eine der fortschrittlichsten Europas. An ihr führte kein Weg vorbei, denn seit 2004 ist die Entsorgung von „unbehandeltem“ Müll auf Deponien verboten (obwohl noch bis 2008 Hausmüll in der Wiener Deponie Rautenweg „zwischengelagert“
Mit dem Einbau einer „Großwärmepumpe“ will Wien die Anlage im Frühjahr 2025 auf den Weg zur Klimaneutralität bringen. Seit 2009 wird auch Fernkälte produziert, die 4.860 einzelne Klimageräte einspart. Seitdem wurde mehrfach generalsaniert [13]. 2030 soll bereits mehr als die Hälfte der Fernwärme aus erneuerbaren Quellen kommen, bis 2040 soll die Fernwärme gänzlich aus erneuerbaren Energien erzeugt werden [14] – wobei Politiker Energie aus Müllverbrennung auch zu den Erneuerbaren zählen.
Für die neue Anlage war nach ihrer Umgestaltung 1990 eine Entstickungsanlage (Entfernung von NOx) nach dem SCR-Verfahren (Selective Catalytic Reduction) ergänzt worden und eine dreistufige Abgas-Nasswäsche, um den strengen Dioxinwert von 0,1 ng/Nm3 zu erreichen [15]. Doch schon 2003 galt die Anlage als veraltet: Da es keine Aktivkohlefilter gab, wurden Schwermetalle in die Luft geblasen [16], die danach ja sicher nicht „weg“ waren, sondern sich irgendwo abgesetzt und angereichert haben dürften.
Kontrolliert wurde über viele Jahre der Gehalt von 11 chemischen Elementen in Schlacke, Filterresten und Abgas [17]. Ferner galt das Monitoring Cloriden im Abwasser der Nasswäsche und natürlich dem Kohlendioxid (CO2), das nicht gefiltert bzw. zurückgewonnen wird.
Unbeachtet blieb, dass bei der Verbrennung hunderte verschiedenster Chemikalien permanent in die Umwelt gelangen, die nicht einmal erfasst oder geprüft werden. Darunter ebenfalls hunderte, über deren Gefährlichkeit nicht einmal etwas bekannt ist, für die es keine Grenzwerte gibt. Kurzkettige PFAS oder Stäube aller Art im Nanometerbereich werden nicht beseitigt und können wegen ihrer Winzigkeit von der Lunge direkt in den Blutkreislauf eindringen [18]. Der permanente Eintrag von jährlich etwa 120.000 Tonnen Abgas [19] über nunmehr vier Jahrzehnte (und davor) könnte sowohl in der Umgebung als auch in den Wienern zu einer Anreicherung geführt haben. Dennoch lassen sich Fans der Anlage wie Ingenieur Ulrich Ponweiser zu der Aussage hinreißen: „Die Luft verlässt die Anlage reiner, als wir sie hineinschicken“ [20].
Hinzu kommen Störfälle, die zu vorübergehend zu erhöhten Werten führen; zeitweise werden bei einzelnen gemessenen Stoffen die vorgeschriebenen Grenzwerte überschreiten [21]. Ob solche Störfälle immer öffentlich gemacht werden, darf bezweifelt werden. Genaueres könnten vielleicht Analysen des Honigs der Bienenvölker zeigen, die auf dem Dach der Power-to-Heat-Anlage angesiedelt wurden.
Hundertwassers Hoffnung, dass Schwermetalle aus der Schlacke oder den Abluftfiltern zurückgewonnen werden könnten, zerschlugen sich. Bisher gelangt nur der Metallschrott über den Rohstoffhandel wieder in die Verhüttung [22]. Die jährlich etwa 4000 Tonnen Schlacke werden auch nicht sicher mit Glas ummantelt, sondern mit Asche und Zement zu Beton gemischt und in der Deponie Rautenweg (1220 Wien) eingelagert [23]. Beton ist sicher nicht so dauerbeständig, wie es Glas wäre. Hinzu kommen etwa 600 Tonnen Staub aus Elektro- bzw. seit 2015 Gewebefiltern und „Schrott“ sowie Abwasser [24], dass gereinigt in den Donaukanal geleitet wird. Die ca. 60 Hektar große Deponie ist mit 187 Metern (Stand 2021) die höchste Erhebung der Donaustadt und soll noch bis 2065 reichen [25]. Vielleicht wird ja kurz vor Toresschluss noch ein Verfahren zum Recycling der Schwermetalle entwickelt, 60 Jahre nach dem Tod Hundertwassers …
© Bildrechte: bm.6
Abb. 6: Verwaltungsgebäude an der Müllverbrennungsanlage Spittelau (Wien) mit zwei Hundertwasser-„Lebensadern“: Keine geraden Linien?
Auch künstlerisch blieb das Ergebnis der Müllanlagen-Behübschung umstritten. Die Verbrennungsanlage wirkt wie ein schrilles, gefrässiges Monster (Beitragsbild). Die äußerliche Verschönerung droht vor dem eigentlich ernsten Hintergrund des Industriebaus ins Clowneske abzudriften, vielleicht sogar ins Horrorhafte wie in einem Roman von Stephen King oder David Mitchell (Abb. 7). Die Frage muss erlaubt sein, warum es nun gerade eine Müllverbrennungsanlage sein musste. Hätte Hundertwasser nicht erst einmal mit etwas Unverfänglicherem beginnen können – wie z.B. einer Schokoladenfabrik? Vermutlich siegte das Bestreben des damaligen Bürgermeisters Zilk, die Wiener mittels eines artifiziellen Facelifts mit ihrer ungeliebten Anlage (bis dato noch Dreckschleuder) zu versöhnen.
Die Wände der Anlage prägt ein schwarz-weißes Karomuster ähnlich einem Art Deco – Küchenfußboden der 1920er Jahre. Auch wenn die einzelnen Karos nicht immer exakt abgezirkelt sind, wirken die Flächen nicht organisch und bilden eigentlich einen Widerspruch zu Hundertwassers Verdikt der geraden Linien [26]. Die gelb bemalten Öltanks mit ihren roten „Adern“ sind nicht mehr original; sie wurden 2022 ersetzt und „in den Farben und Dekorformen des Meisters nachempfunden“ [27]. Obwohl von Hundertwasser selbst so gestaltet, kann man an den Zylindern keine organisch wirkenden Formen entdecken und farblich wirken sie aus der Zeit des PopArt (1970er Jahre) gefallen. Bäume und Sträucher, die Hundertwasser Ende der 1980er Jahre pflanzen ließ, müssten heute schon beachtliche Stammdicken haben. Aber das Grün z.B. oberhalb der Einfahrt wirkt – nach einer Umgestaltung – noch relativ bescheiden [28]. „Die Bäume sind zu groß und zu schwer geworden“, sagt dazu Georg Baresch (Guide bei Wien
Neben der eigentlichen Anlage hat der Künstler auch das Hochhaus der „Wien Energie“ sowie das Verwaltungsgebäude „verziert“. An ersterem fällt zuerst der poppige orangefarbene Schriftzug auf, dann die roten „Lebensadern“. Diese sollen für das Fernwärmenetz stehen, doch sie lassen es wirken, als flösse an der Fassade in Strömen Blut herunter. Neben den typischen bauchigen Ziersäulen finden sich diese „Adern“ auch am Verwaltungsgebäude. An diesem hässlichen Funktionsbau hat Hundertwasser erstaunlicherweise wenig verändert. Die wenigen Ziersäulen wirken hier (Abb. 6) wie überflüssige, angepfropfte Fremdkörper und die „Adern“ eher bedrohlich als lebendig. Sie könnten auch ein Gleichnis sein für die Ströme von Blut, die im Ukraine-Krieg bisher schon flossen und ein Mahnmal gegen die andauernde Nutzung russischen Erdgases durch Österreich.
31 Aufrufe – LDS: 02.12.24
(AT) Angelika Taschen (Redaktion): Für ein natur- und menschengerechteres Bauen. Hundertwasser Architektur. ISBN: 3-8228-9594-0.
(WS) Wieland Schmied: Hundertwasser 1928 – 2000. Persönlichkeit, Leben, Werk. ISBN-10: 3-8289-0817-0.
(MRB) Leo S. Morf, Eva Ritter, Paul H. Brunner: Online-Messung der Stoffbilanz auf der MVA Spittelau, Endbericht. Synthese der Resultate 2000-2004. Ohne ISBN.
(JK) Juliane Koch: Optimierung der Strom- und Wärmeproduktion in der MVA Spittelau (Diplomarbeit für Fernwärme Wien). Ohne ISBN.
(KA) Alexander Kirchner und Thomas Angerer: Fünfzehn Jahre Betriebserfahrung mit DeNOx- sowie Dioxin- und Furanfiltern in Wien. Ohne ISBN.
(RT) Ruedi Taverna (Projektleiter): Routinemäßiges Stoffflussmonitoring auf der MVA Spittelau – Messperiode 1.5.09–30.4.10 – Endbericht. Ohne ISBN.
[1] „Die Spirale bedeutet Leben und Tod nach allen Richtungen. Nach außen läuft sie in die Geburt, ins Leben und anschließend durch ein sich scheinbar Auflösen ins zu Große, in außerirdische, nicht mehr meßbare Bereiche“ – hundertwasser.at: Die Spirale ist das Symbol des Lebens und des Todes. ▲
[2] geschichtewiki.wien.gv.at: Müllverbrennungsanlage Spittelau. Das entspricht etwa 6.395.209,41€, inflationsbereinigt im Jahre 2024:11.831.976,07€ (Quelle: finanzrechner.at: Inflation Österreich). ▲
[3] hundertwasser.com: Fernwärmewerk Spittelau. Argumente wie dass die Anlage mit modernsten technischen Einrichtungen zur Abgasreinigung ausgerüstet werde, einerseits 60.000 Wohnungen mit Fernwärme versorgt werden und dass andererseits in einer Millionenstadt wie Wien selbst bei größten Anstrengungen zur Müllvermeidung eine Verbrennungsanlage keine Alternative habe, überzeugten Hundertwasser schließlich. – hundertwasser.com: Brief an Hannes Minich – zur Spittelau. ▲
[4] hundertwasser.com: Brief an Hannes Minich – zur Spittelau. ▲
[5] Ebda. ▲
[6] wienenergie.at: Die Geschichte der Müllverbrennungsanlage Spittelau – nach Großbrand ein Wahrzeichen. ▲
[7] hundertwasser.com: Brief an Hannes Minich – zur Spittelau. ▲
[8] wienenergie.at: Die Geschichte der Müllverbrennungsanlage Spittelau – nach Großbrand ein Wahrzeichen. ▲
[9] wikiwand.com: Deponie Rautenweg. ▲
[10] Vgl. z.B. (RT), S. 45. ▲
[11] wikipedia.org: Müllverbrennungsanlage Spittelau; (KA), S. 421. ▲
[12] n-tv.de: Gasfluss nur leicht reduziert – Trotz Lieferstopp: Russisches Gas strömt weiter nach Österreich. ▲
[13] condair.de: Müllverbrennungsanlage Spittelau in Wien – Kein Stein auf dem Anderen! ▲
[14] greenenergylab.at: Wärme für weitere 16.000 Haushalte aus der Müllverbrennung in Spittelau, moderne-regional.de: Fachbeitrag: MüllÂverbrennungsÂanlage Spittelau. ▲
[15] (KA), S. 420 u. S. 430. ▲
[16] ots.at: Grüne: Störfall in der Müllverbrennungsanlage Spittelau. ▲
[17] Vgl. z.B. (RT), S. 51. ▲
[18] umweltbundesamt.de: Fragen und Antworten: Ultrafeine Partikel, Ultrafeine Partikel in der Umgebungsluft – Aktueller Wissensstand. ▲
[19] (RT), S. 45. ▲
[20] youtube.com: Hinter den Kulissen: Müllverbrennungsanlage Spittelau, 2:45 min. ▲
[21] Z.B. bei der Emission von gesundheitsschädlichem Kohlenmonoxid (CO), aber auch Kohlenwasserstoffen und Dioxinen – ots.at: Grüne: Störfall in der Müllverbrennungsanlage Spittelau. In der Anfangsphase der Denox-Anlage kam es 1990 zu starker Korrosion in den Abgasleitungen – (KA), S. 431. ▲
[22] (KA), S. 424. ▲
[23] youtube.com: Spittelau: Wo Kunst auf Müllverbrennung trifft, 7:46 min. ▲
[24] (RT), S. 45; wienerstadtwerke.at: Generalsanierung der Müllverbrennungsanlage Spittelau. ▲
[25] Stand 2018 waren noch 13 Millionen Kubikmeter Platz – wikiwand.com: Deponie Rautenweg. ▲
[26] Auch an der behübschten Müllverbrennungsanlage in Osaka, dem MOP Incinerator, und ähnlich am Kunsthaus Wien, wurden schwarz-weiße Rechteck-Muster verwendet. ▲
[27] moderne-regional.de: Fachbeitrag: MüllÂverbrennungsÂanlage Spittelau. ▲
[28] wienenergie.at: Das ist der neue Erlebnispfad in der Spittelau. ▲
[29] youtube.com: Spittelau: Wo Kunst auf Müllverbrennung trifft, 2:20 min. ▲
Beitragsbild: Mirke 15.10.2024.
bm.4 (KA), S. 423, 25.11.2024. ▲
bm.5 Spittelau: Wo Kunst auf Müllverbrennung trifft, Youtube-Terms, 4:30 min, 25.11.2024. ▲