Der vereinnahmte Goethe



Weimar, 5. Juli 2024 – Der vereinnahmte Goethe
Nirgends in Deutschland ist die Kulturdichte pro Einwohner wohl so hoch wie in Weimar. Von Goethe bis Wieland, Nestroy bis Schiller, Bach bis Liszt, Hans Christian Andersen bis Nietzsche – alle waren über kürzer oder länger Weimarianer. Und damit sind nur ausschnitthaft wenige der Kulturgrößen genannt.

Fast an jeder Ecke trifft man auf Goethe, was keine Ãœberraschung ist. Weniger bekannt ist Goethes eher ablehnende Haltung einem deutschen Nationalstaat gegenüber. Von einer politischen Einigung, wie sie sich dann 1871 mit Wilhelm II. vollzog, hielt er nichts (➥  Schillers Tod: TBC, Drogen und Tapete). Der 1832 gestorbene Dichter konnte sich noch gut ein zersplittertes Deutschland vorstellen, dass nur kulturell eine Einheit bildet. „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ hätte ihm als gemeinsame Verfassung einer „Kulturnation“ gereicht. Dem während der Befreiungskriege aufkeimenden Nationalgefühl und der deutschen Identitätssuche stand Goethe ablehnend gegenüber [1]. Stattdessen findet man selbst beim späten Goethe, als Napoleon längst auf St. Helena saß, noch eine versteckte Bewunderung für den französischen Eroberer.

Dass ausgerechnet er später zum „deutschen Identitätsstifter“ erhoben wurde, bezeichnet z.B. Nutz als „bedürfnisorientiertes und interessengeleitetes Konstrukt“ [2] aus der Zeit zwischen Vormärz und Reichsgründung (siehe auch ➥ Freytag-Kult in Siebleben: Pathos ist Gift. Gustav Freytag entsprach diesem Bedürfnis in gezielter Weise). August Wilhelm Rehberg sah in Goethe die Eigentümlichkeit der Deutschen positiv verkörpert, „was an uns ist, und was aus uns hätte werden können“. Tatsächlich sollte Goethe mit seiner Skepsis Recht behalten; die deutsche Suche nach Identität und Aufwertung mündete in Militarismus und den ersten Weltkrieg und im nächsten Anlauf in Völkermord, 2. Weltkrieg und etwa 80 Millionen Tote in Europa.

Heute stehen wir in gewisser Weise vor einem ähnlichen Scheideweg, auf anachronistische Weise hat die Wiedervereinigung zu „Identitätsschmerzen“ geführt, die sich hoffentlich nicht in ähnlicher Weise entladen werden wie im 20. Jahrhundert. Vielleicht hatten diejenigen nicht ganz unrecht, die sich 1989 zunächst einen freien Staatenbund zwischen der ehemaligen DDR und der BRD vorstellen konnten, dessen Grenzen innerhalb einer Europäischen Gemeinschaft schließlich an Bedeutung verloren hätten. Es hätte ein politischer Staatenbund einer geeinten Kulturnation im Goethe’schen Sinne werden können.

33 Aufrufe – 17.07.2024


Literatur & Medien

(MN) Maximilian Nutz: Das Beispiel Goethe. Zur Konstituierung eines nationalen Klassikers.

Fußnoten

[1] Z.B. (MN), S. 6. 

[2] (MN), S. 3. 

Beitragsbild: Concord, CC BY-SA 4.0 @wikipedia.org, bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 2024. Die 2,36m hohe Marmorskulptur zeigt Goethe als Gott mit Psyche. Verantwortlich für das Entstehen des Werks war Bettina von Arnim, die sich damit finanziell übernahm. Zum Glück sprangen Walter Wolfgang Freiherr von Goethe (ein Enkel des Schriftstellers) und Großherzogin Maria Pawlowna ein. Das 10 Tonnen schwere Ungetüm von Carl Steinhäuser stand zunächst im Tempelherrenhaus im Park an der Ilm (heute Ruine), heute befindet es sich im Treppenhaus des Neuen Museums Weimar – wikipedia.org: Goethe und Psyche. Das Monument steht heute exemplarisch für die absurde Goethe-Verherrlichung der wilheminischen Zeit.

dvg.1   Mirke, 2024.