Greifswald ist nicht Stralsund


Greifswald, 17. Januar 2025. Der deutsch-amerikanische Allround-Künstler Lyonel Feininger hielt sich zwischen 1906 und 1937 oft in Weimar auf, erkundete mit dem Rennrad das Umland und zeichnete [1]. In Gelmeroda, ein Dorf in der Nähe der Autobahnabfahrt nach Weimar südlich der Stadt, entstanden die bekannten zahlreichen Zeichnungen und Aquarelle der berühmtesten „Feininger-Kirche“, von denen er auch in seinen späteren Jahren in New York immer wieder gerne Interpretationen erstellte. In der alten Kirche [2] mit ihrem extrem spitz zulaufenden Turm befinden sich heute Exponate zum Künstler inklusive Kopien der Feininger-Kirchen-Gemälde. Außerdem Brieffragmente, biographische Informationen und Landkarten mit seinem Wirkungskreis. Heute verbindet ein 30 Kilometer langer Feininger-Radweg die wichtigsten Stationen des Künstlers im Umland. Donnerstags bis sonntags wird die Kirche mit verschiedenfarbigen Hochleistungsstrahlern erhellt, die als Lichtskulptur einen Feininger-Effekt erzeugen sollen [3].


© Bildrechte: GS.1

Links: „Gelmeroda IX“ (1926). Rechts: Die Kirche 2023.

Im Sommer machte Feininger gerne Urlaub an der Ostsee, auf Rügen oder Usedom, bis nach Deep im heutigen Polen. Auch hier erkundete er per pedales Städte und Dörfer und zeichnete mit Vorliebe alte Kirchen wie z.B. die St. Petri-Kirche in Benz. Vielleicht daher wird dem Karikaturisten und Kubisten Feininger von evangelischer Seite her oft Sympathie entgegen gebracht.

Er gehörte der evangelisch-lutherischen Kirche an, war gläubiger Christ und blieb selbst ab 1933 weitgehend unpolitisch. Seine Werke wurden von den Nati­onal­sozia­listen als „entartet“ klassifiziert, der Künstler emigrierte erst 1937 in die USA [4]. In seinen Briefen an seine Frau Julia, die aus einer jüdischen Familie stammte, hat er einige Male Sympathie für Hitlers Politik geäußert [5]. Zugleich war er aber gegen Rassendiskriminierung, Antisemitismus und für Gleichberechtigung. Gegen Ende des 1. Weltkriegs war Feininger der „Novembergruppe“ beigetreten, einer deutschen Künstlervereinigung, die sich selbst als radikal und revolutionär bezeichnete [6]. Auch seine Mitarbeit am Weimarer Bauhaus verortete ihn politisch eher links.

Bei viel Rennrad-Raserei kann man auch schon mal durcheinander kommen: 1930 entstand eine Zeichnung des Greifswalder Doms St. Nikolai, die der Künstler fälschlich mit „Stralsund I“ signierte (Abb. 1). Ganz ähnliche Perspektiven wählte Feininger auch bei anderen Werken: Stadtkirche Weimar (1929), Umpferstadt (1930), Blick auf die Blasii-Kirche in Nordhausen (1932 und 1947), Steeples of St. Blaise (1947), um nur einige zu nennen. Durch eine sich verengende, dunkle Gasse blickt man entlang der Häuser­fassaden auf ein hochragendes Kirchen­gebäude im Zentrum des Bildes vor einem hellen Himmel. Im Eingangsbereich von St. Nikolai in Greifswald kann man einen Druck von Feiningers Aquarell-Zeichnung des Doms für 10 € erstehen.

Eine seiner ausgedehntesten Radtouren hatte Feininger Ende August 1928 von Swinemünde aus nach Westen unternommen, über Heringsdorf, Wolgast und Greifswald. In einem Brief aus der Stadt notierte er am 31. August 1928: „Rundgang durch die Stadt – viel gezeichnet und photographiert“ [7]. Erst zwei Jahre später entstand aus diesen Notizen (datiert 8/30) die aquarellierte Federzeichnung, die heute im Besitz der Lyonel-Feininger-Galerie in Quedlinburg ist. Die Zeichnung wurde zunächst in schwarzer Feder mit geraden Strichen angelegt, die Häuser­fluchten mit Schraffuren, um dunkle Partien zu verdeut­lichen. Dann kam mit zartem Aquarell die Farbe hinzu. Feiningers Kunst hat etwas Leichtes, Ätherisches und nicht die harte Energie etwa Picassos. Die fast flüchtige, kontemplative, spirituelle und traumhafte Atmosphäre erinnert an Marc Chagall [8]. Die durch kristalline Geometrisierung entstandene Strenge wird durch Pastelltöne und seine transparente Malweise aufgehoben.

Feinigers Werk ist kunsthistorisch noch nicht vollständig erschlossen, insbesondere der umfangreiche Briefwechsel mit seiner Frau ist in einem Privatarchiv in den USA schwer zugänglich [9]. So konnte ich nicht ermitteln, ob der Künstler vielleicht aus seinen vielen Zeichnungen und Fotografien von Greifswald später noch einige Aquarelle gefertigt hat, die möglicherweise ebenfalls fälschlich Stralsund zugeordnet wurden.

9 Aufrufe – LDS: 19.01.2025


Fußnoten

[1] Ab 1919 wirkte Feininger als Leiter der grafischen Werkstatt am Staatlichen Bauhaus Weimar mit – wikipedia.org: Lyonel Feininger

[2] Teile der Chorturmkirche wurden schon im 13. Jahrhundert errichtet – wikipedia.org: Dorfkirche Gelmeroda

[3] Informationstafel „Lichtskulptur“ in der Feiningerkirche Gelmeroda (2023). 

[4] wikipedia.org: Lyonel Feininger

[5] forschung-und-lehre.de: Lyonel Feininger-Biografie – „Als Lehrer zwiespältig, als Künstler berühmt“

[6] journal21.ch: Der zugängliche Moderne. Der Artikel erschien anlässlich der Feininger-Ausstellung in der Frankfurter Schirn (Römerberg) 2023/24. 

[7] Informationen der Ev. Domgemeinde St. Nikolai Greifswald zur Feininger-Zeichnung, entnommen aus: Lyonel Feininger. Erlebnis und Vision. Die Reise an die Ostsee 1892-1935, Regensburg 1992. 

[8] journal21.ch: Der zugängliche Moderne

[9] forschung-und-lehre.de: Lyonel Feininger-Biografie – „Als Lehrer zwiespältig, als Künstler berühmt“

Beitragsbild: Mirke, 2025. Greifswalder Dom St. Nikolai.

GS.1   Links: Museum Volkwang © VG Bild-Kunst, Bonn 2018. Rechts: Mirke, 2023.  

GS.2   Ev. Domgemeinde St. Nikolai Greifswald. Foto: Mirke, 2025.