Berlin, 12. Juli 2024. Endlich hatte Franz Kafka es geschafft, sich von seiner alten Heimatstadt Prag ganz zu lösen. Voller Hoffnung bezog er Ende September 1923 eine Wohnung in der Berliner Miquelstraße 8 (heute Muthesiusstraße), seine neue Freundin Dora Diamant spielte die Haushälterin und reiste täglich aus dem Scheunenviertel an.
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Das Wohnhaus an der Ecke Muthesiusstraße/Rothenburgstraße ist nicht erhalten, es wurde im 2. Weltkrieg zerstört. Hier finden sich keine Kafka-Spuren mehr – nur ein Stolperstein erinnert an die Vermieterin Clara Hermann, der Kafkas unehelicher Hausstand ein Dorn im Auge war, die ihn mit Mieterhöhungen quälte und die er in der Kurzgeschichte „Eine kleine Frau“ verewigt hat
Regelmäßig bietet Sarah Mondegrin seit vielen Jahren einen Walk zu den ersten beiden Wohnadressen Kafkas im Berlin von 1923/24 an. Es beginnt an der Schwartzschen Villa (erbaut 1895), geht zum Steglitzer Rathaus an der Kreuzung Schlossstraße/Grunewaldstraße, dann zur zweiten Wohnadresse Grunewaldstraße 13, schließlich in die Muthesiusstraße und in einen kleinen Park in der Nähe, den vermutlich auch der Schriftsteller aufsuchte. An der letzten Adresse in Zehlendorf – damals Heidestraße 25-26, heute Busseallee 7-9 – lebte Kafka mit Dora nur noch knapp 4 Wochen als Chemiker Dr. Käsbohrer
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Kafkas letzte Wohnadresse in der Bussestraße. Nette Villengegend, aber die Busse-Villa wurde abgerissen.
Am Steglitzer Rathaus hing die Tageszeitung aus, der Schaukasten existiert immer noch. In der Schlossstraße kaufte er ein. Am Haus Grunewaldstraße 13 hängen zwei (schlecht lesbare) Gedenktafeln, im Vorgarten steht wohl eher zufällig ein Pflaumenbaum wie zu Kafkas Zeiten. Unweit der Kreuzung Schlossstraße/Grunewaldstraße, heute verunziert durch die ewige Baustelle des Steglitzer Kreisels und vom Straßenlärm umspült, entstanden am ruhigen Rande der Großstadt viele Texte, wenige sind erhalten geblieben. Der heute weltbekannte Schriftsteller ließ das meiste in seinem Beisein von Dora Diamant vernichten.
Sarah Mondegrin zeigt zeitgenössische Fotos und berichtet viel Anekdotisches: Von dem kleinen Mädchen, das im Park ihre Puppe verlor und der Kafka wochenlang Briefe (der Puppe) gab, um sie mit dem Verlust zu versöhnen. Davon, dass in irgendwelchen Archiven möglicherweise noch Kafka-Fragmente schlummern, die von der Gestapo beschlagnahmt worden waren
Ãœber all dem gerät fast in Vergessenheit, dass Kafkas Monate in Berlin (September 1923 – April 1924) zu seinen letzten Lebensmonaten gehörten (†3. Juni 2024). Seine Tuberkulose war fortgeschritten, Tagebuch-Einträge wurden selten. Er fühlte sich oft hinfällig und voller Schmerzen. Und er hielt sein Werk für lückenhaft. Seine letzte Erzählung endet mit den Worten: „… wird fröhlich sich verlieren in der zahllosen Menge der Helden unseres Volkes, und bald […] in gesteigerter Erlösung vergessen sein wie alle […] Brüder“
66 Aufrufe – LDS: 21.07.2024
(KW) Klaus Wagenbach: Kafka. ISBN: 3 499 50091 4.
(MB) Max Brod (Hrsg.): Franz Kafka, Gesammelte Werke, Bd. 7, Tagebücher 1910-1923. ISBN: 3 436 02351 5.
[1] mondegrin.de: Mondegrin-Walks. ▲
[2] franzkafka.de: Kafka spuckt vom Balkon. ▲
[3] Dora Diamant behielt Notizhefte Kafkas in ihrem Besitz. Diese wurden zusammen mit ihren übrigen Papieren bei einer Razzia der Gestapo im Jahre 1933 aus ihrer Wohnung gestohlen und gelten als verschollen. Sie werden im Bundesarchiv vermutet, ebenso wie Franz Kafkas Briefe an Dora Diamant – wikipedia.org: Dora Diamant, Abschnitt „Die Zeit mit Franz Kafka“. Als verschollen gelten auch die „Puppenbriefe“. 548 laufenden Kilometer Schriftgut (inklusive Karteien) müsste jemand mal im Bundesarchiv danach durchforsten. ▲
[4] Zitiert nach (KW), S. 135. Es handelt sich um den Schlusssatz der Erzählung „Josefine, die Sängerin, oder das Volk der Mäuse“. Die Erzählung ist keineswegs autobiografisch. Sie kann aber als Gleichnis für Kafkas skeptisch-kritische Haltung gegenüber seinem eigenen Werk gelten. ▲
Beitragsbild: Anonymous/Unknown author (see File:Kafka.jpg), Public Domain, via Wikimedia Commons. Bearb. v. Mirke (Ausschnitt), 2024.
kwds.2 Zeitgenössische Postkarte, Public Domain. Zur Verfügung gestellt von Sarah Mondegrin, bearb. von Mirke (Ausschnitt, Pfeil), 2024. ▲