Straße zu und Schiene dicht: Ende der Mobilität?


Erlabronn, 30. September 2024. Urlaub in Franken: Was deutlich in Erinnerung bleibt, sind vor allem Straßensperrungen. Innerorts und außerhalb. Klar, Bauarbeiten müssen sein. Vielleicht sind sie ein Zeichen, dass sich was tut: Unser Straßennetz ist marode und Bayern verfügt über das längste Netz an Autobahnen, Bundesstraßen und Landstraßen [1] – dank vieler CSU-Bundes­ver­kehrs­minister. Aber gleich die komplette Landstraße dichtmachen, weil ein Stück erneuert werden muss, das vielleicht nur ein paar Meter lang ist? Früher sperrte man einen Fahrstreifen und betrieb den anderen mit einer temporären Ampel (für beide Richtungen abwechselnd). Heute ist man radikaler, man könnte auch sagen: rücksichtsloser. Da wird gleich komplett dichtgemacht, aufgerissen oder gesprengt wie 2023 die Rahmede-Talbrücke bei Lüdenscheid. Brückenabriss oder -sprengung kosten viele Millionen, die man besser vorher in die Erhaltung investiert hätte [1.1].

Wie die Menschen damit klarkommen, ist doch deren Problem. Ob Touristen die Orientierung verlieren oder Termine nicht halten können, viel Zeit und Benzin verschwenden, gilt als Luxusproblem. Nicht-Touristen müssen tägliche Staus und Umfahrungen hinnehmen, die viel mehr Zeit und Nerven und entsprechend Energie und Geld kosten. Im Falle von Handwerkern findet man den Zeitverlust als erhöhte Anfahrtskosten auf der Rechnung (auch so steigert man das Bruttosozialprodukt, allerdings unproduktiv). Regelmäßig sehen sich 80% der Unternehmen „durch Infrastrukturmängel in ihrer Geschäftstätigkeit beeinträchtigt“ [1.2]. Sperrungen und Umleitungen verschärfen das Problem. 2002 summierten sich jährliche Staus auf 321.000 Kilometer, 2018 waren es schon 1.528.000 Kilomenter [1.3].

Auch die einzelnen Baustellen auf den Autobahnen werden immer länger. Früher waren es mal hier drei Kilometer und dort fünf. Heute fährt man gleich mal 25 Kilometer lang auf verengten Fahrstreifen mit Tempo 80. In Deutschland summierten sich die Baustellen 2023 auf 2.172 Kilometer [2], von insgesamt 13.192 Kilometern (Stand: 2021, das entspricht einem Anteil von 16,5%) [3]. Rekordhalter ist die A7 (von Flensburg bis zum Alpenrand): Auf rund 1000 km gibt es etwa 200 km Baustellen. Warum sperrt man nicht nur dort ab, wo gerade tatsächlich gebaut wird und verschiebt diese Kurzbaustelle eben über die Strecke, bis alles saniert ist?

Den verantwortlichen Behörden sind die Nachteile für die Menschen anscheinend ziemlich gleichgültig. Wahrscheinlich gibt es Versicherungs- und Haftungsgründe? Die Vollsperrung ist betriebswirtschaftlich kostengünstiger als der Ampelbetrieb? Es ist billiger, gleich 25 Kilometer Autobahn am Stück stillzulegen? Hinzu kommt, was man immer wieder beklagen kann: monatelang wird abgesperrt, aber tagelang ist niemand zu sehen. Manche Baustellen wie die Leipziger Straße in der Berliner Innenstadt werden zur Dauereinrichtung, die über Jahre bestehen bleiben, ohne dass sich ein erkennbarer Fortschritt einstellt. Selten sieht man dort Bauarbeiter. In der Zwischenzeit ändern sich die Mehrheitsverhältnisse im Senat und was eben noch opportun war, wird nun wieder zurückgebaut. Auf dass es nie endet.

In den Niederlanden kriegen sie es hin

Dass es auch anders geht, machen die Holländer vor. Dort ist es mit Hilfe des Omgevingswet-Gesetzes (Umwelt- und Planungsgesetzes) 2024 gelungen, das Bau- und Planungsrecht entscheidend zu entschlacken [4]. Während in Deutschland Bedenkenträger ängstlich kleinteilige Planung betreiben, setzt man in den Niederlanden auf Vereinfachung und Transparenz. Die gesamte Planung liegt auf einer zentralen Plattform digitalisiert und für alle Beteiligten sowie für Bürgerinnen und Bürger verständlich einsehbar vor. Sämtliche Prozessschritte werden nur noch über dieses System abgewickelt. Aktenordner und Medienbrüche gehören damit der Vergangenheit an [5]. Das deutsche „Baulandmobilisierungsgesetz“ sorgt im Gesamtpaket dagegen für komplexere, nicht für schlankere Prozesse. Das technische Regelwerk allein ist hinsichtlich der Bauvorschriften fast undurchschaubar [6]. Hinzu kommen „Bräsigkeit, Phlegma und Selbstzufriedenheit“ in Politik und Verwaltung, wie die Autoren des Buchs „Baustellen der Nation“ festhalten [6.1].

In Holland setzt man bei der Straßen­sanierung z.B. auf modulare Bauweise: das bringt schnellere Bauzeiten, höhere Qualität, Flexibilität und Nach­haltig­keit. Straßen oder Brücken werden aus vorge­fertigten Modulen oder Seg­menten schnell zusammen­gesetzt. Diese Module werden in einer Fabrik her­gestellt und dann zur Baustelle transportiert, wo sie effizient zusammen­gefügt werden können. Man experi­mentiert in Rotter­dam sogar mit Asphalt-Platten aus recyceltem Kunststoff [7]. In den Nieder­landen wird bei der Straßen­sanierung oft auch nachts und am Wochenende durchgearbeitet [8]. So kann das Land mit seiner tadel­losen Infrastruktur Investoren anlocken, Holland gilt dies­bezüglich als das weltweit drittbeste Land [9] – und das ohne Abstriche im Bereich Umwelt­schutz und Nach­haltigkeit.

Auch Japan ist übrigens vorbildlich im Straßenbau, wie ein Video zeigt: Arbeit in Japan. Innerhalb von nur 48 Stunden wird hier eine neue Straßenunterführung fertig gestellt.

Ohne Infrastruktur keine Produktivität

Passend zum Thema heute die Klage, dass der deutsche Wirtschaftsklima-Index den 4. Monat in Folge zurückgeht [10]. Der Standort Deutschland verliert an Attraktivität. Eben wohl auch, weil die Infrastruktur am Boden ist. Straßen werden dicht gemacht, Brücken stürzen ein, auch auf die Bahn und den Nahverkehr kann man sich immer weniger verlassen. Es dürfte jedem einleuchten, dass dies die Herstellungsprozesse und die Produkte selbst verteuert, also die Produktivität in Deutschland senkt. Und natürlich wird die Bewegungsfreiheit eingeschränkt – Mobilität ist ein wichtiger Aspekt von Freiheit und Teilhabe.

Welche Alternativen gibt es denn für Unternehmen, die Mitarbeiter suchen und Rohstoffe und Zuliefererprodukte benötigen? Die ihre Waren an die Menschen bringen müssen? Keine. Die Bahn legt Hauptstrecken lahm, um sie zu sanieren. Die Binnenschifffahrt funktioniert nicht mehr. Selbst Fluglinien werden komplett eingestellt [10.2].

Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) hat errechnet, dass bis 2030 372 Milliarden € in Straßen, Brücken und Schienen investiert werden müssten [11]. Und zwar bitte auf eine vernünftige Weise: Durchgehende Reparaturen im laufenden Betrieb, ohne Vollsperrungen. Permanente Pflege statt Hauruck-Maßnahmen. Aber nach solchen vernünftigen Investitionen sieht es gar nicht aus, wir werden auf Dauer mit Vollsperrungen, Umleitungen und immer mehr Staus und Verspätungen rechnen müssen (➥ Katastrophe „Deutsche Bahn“ – Verspätung für Verkehrswende). Zusätzlich dürfen wir uns über die nächste Preiserhöhung bei der Bahn „freuen“ [12]. Die Wirtschaft stolpert in die Rezession, aber der Haushalt des Verkehrsministers ist solide. In Deutschland wird von A nach B zu kommen zum teuren Abenteuer – wie in der Barockzeit.

56 Aufrufe – LDS: 05.10.2024


Literatur & Medien

(PBUB) Philip Banse, Ulf Buermeyer: Baustellen der Nation. Was wir jetzt in Deutschland ändern müssen. ISBN: 978-3-550-20241-4.

Fußnoten

[1] de.statista.com: Länge der Autobahnen in Deutschland von 1995 bis 2023

[1.1] welt.de: Abbruchkosten an Dresdner Carolabrücke in Millionenhöhe. Rahmede: ‚„Insgesamt ist bei einer neuen Brücke von Kosten in Höhe von etwa 80 Millionen Euro auszugehen“, sagte Autobahn-Sprecher Löchter. 2014 waren für den Brücken-Neubau noch 43 Millionen Euro kalkuliert‘ – come-on.de: A45-Sperrung: Erste Kostenschätzung für die neue Talbrücke Rahmede

[1.2] Nach einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) von Sommer 2022, zitiert nach (PBUB), S. 22. 

[1.3] Zahlen des Wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsminiteriums, nach (PBUB), S. 23. 

[2] autobahn.de: Alle Baustellen und Sperrungen auf einen Blick

[3] de.statista.com: Statistiken zu Straßen in Deutschland

[4] nl.wikipedia.org: Omgevingswet: Den Niederlanden ist es gelungen, die Gesetzgebung im Umwelt- und Planungsrecht erheblich zu vereinfachen. Hunderte von Normen wurden zusammengefasst. Das Gesetz bedeutet eine erhebliche Reduzierung von Vorschriften in den Bereichen Wasser, Luft, Boden, Natur, Infrastruktur, Gebäude und Kulturerbe. Das Gesetz trat am 1. Januar 2024 in Kraft. 

[5] aurelis.de: Planungsrecht – in den Niederlanden ist erst mal alles möglich, heuboe.de: SPIN – Baustellenmanagementsystem von Rijkswaterstaat

[6] wikipedia.org: Liste der technischen Regelwerke für das Straßenwesen in Deutschland

[6.1] (PBUB), S. 12. 

[7] globalmagazin.eu: Rotterdam erprobt Straßen aus Recycling-Plastik, ingenieur.de: Recycling-Kunststoff-Module: Ein Meilenstein im Straßenbau, Zur Problematik des entstehenden Mikrokunststoffs – zeit.de: Können Straßen aus Plastik unser Entsorgungsproblem lösen? 

[8] dachist.org: A2 in den Niederlanden gesperrt: So meistern Sie das Verkehrschaos, anwb.nl: Verkeersinformatie: files, flitsers, wegwerkzaamheden

[9] german.investholland.com: Die überragende Logistik- und Technologie-Infrastruktur der Niederlande, de.intercompanysolutions.com: Laut dem Weltwirtschaftsforum liegt die physische Infrastruktur der Niederlande weltweit an dritter Stelle

[10] wiwo.de: Ifo-Index sinkt erneut – „Die deutsche Wirtschaft gerät immer stärker unter Druck“, de.statista.com: Entwicklung des ifo-Geschäftsklimaindex von September 2022 bis September 2024. Der Index liegt derzeit aber noch höher als etwa 2005 oder 2009 (Bankenkrise). Laut Prognose der führenden Wirtschaftsinstitute (Gemeinschaftsdiagnose) soll das BIP im Jahr 2024 um 0,1 Prozent schrumpfen, damit befände sich Deutschland in einer leichten Rezession – de.statista.com: Prognosen zur Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Deutschland für die Jahre von 2024 bis 2026

[10.2] n-tv.de: „Nationale Alleingänge“ – Lufthansa-Chef sieht Deutschland im Luftfahrt-Niedergang

[11] zdf.de: Schienen, Straßen, Brücken – Studie: 372 Milliarden für Verkehrsnetz nötig, n-tv.de: 4500 marode Bauwerke – Sanierung von Straßen und Brücken verschlingt weitere Milliarden, faz.net: Straßenreparaturen – 10 Milliarden Euro und trotzdem keine freie Fahrt. Das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) und das wirtschaftsliberale Institut der deutschen Wirtschaft (IW) schätzten 2020 die notwendigen Infrastruktur-Investitionen sogar schon auf 457 Milliarden € – (PBUB), S. 17. 

[12] n-tv.de: Vom 15. Dezember an – Deutsche Bahn erhöht im Fernverkehr ihrer Preise

Beitragsbild: tz.de, @LHM, 30.09.2024. Baustellen in München 2023. Verwendung nach §§50-52 UrhG.

szsd.1   animaflora @iStock, Standardlizenz 2100072973, 01.10.2024.  

szsd.2   Philipp @3dwarehouse.sketchup.com, bearb. durch Mirke, 01.10.2024.  

szsd.3   Ausriss der Liste der technischen Regelwerke für das Straßenwesen in Deutschland, bearb. durch Mirke, 05.10.2024.